Manchmal, wenn mich eine Sache besonders interessiert oder begeistert, reagiere ich vorschnell, schreibe zum Beispiel einen Artikel über die Frauen im Surrealismus, obwohl ich nur notdürftig erklären kann, was Surrealismus eigentlich ist.
Nicht immer, aber manchmal, fällt mir dann im Nachhinein auf, wie unüberlegt und vorschnell das war und ich recherchiere. Immer noch am liebsten in den guten alten dicken schweren und unhandlichen Büchern, statt im Internet, weil ich da immerabgelenkt bin.
Für diejenigen, die es interessiert, hier die Früchte dieser Nachbearbeitung:
Den Begriff „Surrealismus“ prägte der französische Schriftsteller Guillaume Apollinaire, als er 1917 zu Jeans Cocteaus Ballett Parade, zu dem Erik Satie die Musik geschrieben hatte, und Pablo Picasso das Bühnenbild entwarf, schrieb, diese Aufführung enthülle eine Wahrheit hinter der Wahrheit, und stelle eine Art Sur-Realismus dar.
Sein eigenes Stück Les Maelles de Trisésias untertitelte Apollinaire als „surrealistisches Drama“.
Wenig später übernahmen Andre Breton und Philippe Soupault den Begriff für das von ihnen entwickelte Verfahren.
Breton war im ersten Weltkrieg Assistent in einer psychiatrischen Lazarettstation. Dort lernte er die psychoanalytischen Untersuchungsmethoden Freuds kennen und konnte beobachten, wie man durch Hypnose versuchte, die Traumata der Patienten zu lindern. Für Breton waren diese Techniken mehr als therapeutische Behandlungsversuche, er sah hier einen Weg einer unerschlossenen, den gesellschaftlichen Konventionen nicht unterworfenen Realität auf die Spur zu kommen.
Im ersten Manifest des Surrealismus schrieb Breton 1924: „Zu Ehren Apollinaires bezeichnen Soupault und ich diese neue Form des reinen Ausdrucks mit dem Namen SURREALISMUS und beeilen uns, was wir an Erkenntnissen gewonnen haben, unseren Freunden zugänglich zu machen.“ (André Breton, Erstes Manifest des Surrealismus, 1924)
Ursprünglich war der Surrealismus ein rein literarisches Unternehmen. Vorbild war Lautréamont, von dem insbesondere folgendes Zitat zum geflügelten Wort innerhalb surrealistischer Kreise wurde:
“wie die Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch” (Lautréamont, die Gesänge des Maldoror, 6. Gesang)
Die Zwänge der Logik, der Kontrolle, des Folgerichtigen sind hier außer Kraft gesetzt. Die Vorherrschaft des Intellektes über das Unbewusste gilt nicht länger. Gleichzeitig kann der Seziertisch dahingehend verstanden werden, dass die Dinge sehr genau untersucht werden, man sich nicht mit ihrer Oberfläche zufrieden gibt.
Breton erklärte das automatische Schreiben zur wichtigsten surrealistischen Praxis, zum Kern des Surrealismus:
„SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.“ (Breton, erstes surrealistisches Manifest, 1924)
Obwohl der Surrealismus seine Wurzeln im Dadaismus hat, versuchten sich die Surrealisten bald von DADA abzugrenzen. Dada war für sie lediglich Protest, Nihilismus, der Surrealismus hingegen wollte mehr: die Erschaffung einer freien, revolutionären und unabhängigen Kunst. Man will nicht nur hinter die Grenzen der Realität gelangen, sondern gleichzeitig die Gesellschaft verändern.
1919 entstand das erste Werk, das auf der automatischen Schreibweise basierte; Die magnetischen Felder von André Breton und Phillipe Soupault. Breton schreibt dazu:
„ Es handelt sich um die erste surrealistische (und keineswegs dadaistische) Arbeit, ist sie doch das Resultat der ersten systematischen Anwendung der Ecriture automatique.“ (André Breton, Entretiens 1913-1952 avec André Parinand, Paris, 1952).
Und Soupault ergänzt:
„Bei unseren Studien haben wir festgestellt, dass der Geist, wenn er sich vom Druck der Kritik und der schulischen Gewohnheiten befreit hat, keine logischen Sätze, sondern Bilder hervorbringt.“ (Philippe Soupault, profils perdus, Paris, 1963).
1922 erschein der Gedichtband Les Malheurs des immortels (Die Unglücksfälle der Unsterblichen) von Paul Èlurad und Max Ernst, mit Collagen von Max Ernst. Das automatische Schreiben der magnetischen Felder hatte sich hier zu einem Dialog zwischen Text und Bild erweitert. Die Zusammenarbeit der Künstler stand wiederum unter einem Motto, das Lautréamont beigesteuert hatte: „Die Poesie muss von allen, nicht von einem gemacht werden.“
Der Weg von der literarischen zur malerischen Bewegung schien geebnet.

Spannend. Mit gefällt das Zitat von Soupault sehr gut: „dass der Geist, wenn er sich vom Druck der Kritik und der schulischen Gewohnheiten befreit hat, keine logischen Sätze, sondern Bilder hervorbringt“. Damit starte ich in den Tag und lasse es noch ein bisschen in meinem Hirn kreisen. Vielen Dank auch für die Reihe „Frauen im Surrealismus“. Sehr interessante Biografien & Bilder!
Ich würde ja gerne wissen, welche Bilder dieses Zitat im Laufe des Tages in Deinem Kopf hat entstehen lassen 😉
Ich freue mich, dass es Du den Artikel gern gelesen hast.
Nun, das kann ich nicht so leicht in Worte fassen, denn bei dem Versuch schlagen ganz schnell Kritik & die Gewohnheit, alles in logischen Sätzen zu formulieren, zu. Es hat mich aber inspiriert, heute durch die Straßen zu laufen und dem Herbst beim Malen zuzusehen, statt über Dinge nachzugrübeln, die mich derzeit beschäftigen …
vielen Dank, liebe Mützenfalterin, für deine Fleißarbeit. Und schon bin ich neugierig z.B. auf den Gedichtband von Paul Èlurad und Max Ernst…
liebgrüßt dich Frau Blau
Ich freue mich auch über Dein Interesse.
Reblogged this on Auf dem Dao-Weg.
Das war sehr interessant zu lesen, Mützenfalterin!
Schade, dass heute nicht mehr soviele Manifeste geschrieben werden wie früher!
Das ist ein interessanter Kommentar, Susanne. Was gefällt Dir an Manifesten? Was ist für Dich daran das Faszinierende, oder jedenfalls das, was Dich bedauern lässt, dass heute nicht mehr so viele davon geschrieben werden?
Es gibt Manifeste zu vielen Kunstrichtungen, sie ordnen und geben Einblick in das Wollen des Künstlers. Oft sind die Manifeste in Gruppen erarbeitet und geben Anstoss in neue Denkrichtungen.