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Ich wollte unbedingt ein Hündchen. Das Hündchen war dasjenige Wesen, das Jahre später überlebte. Eine seltsame Krankheit, die ich seit Jahren kultiviere sind diese Zeitsprünge. Ich erzähle etwas, das Jahrzehnte zurückliegt, und kann nicht anders, als sofort zu dem Punkt zu kommen, der alles zerstört. Also jegliche Spannung, die vielleicht aufgebaut werden könnte. Obwohl; ich und Spannung? Ich, ein Hündchen und Spannung? Vielleicht lieber sammeln. Da war Katrins Hund. Der große sehr gutmütige Rottweiler, mit dem sie gemeinsam mit Sandra und ihrem Collie in einer kleinen, wirklich sehr kleinen Wohnung mitten in der Innenstadt wohnte. Eines Tages waren ihre schönen schwarzen Haare ganz kurz und blond. Das war traurig. Aber sie hatte es auch aus einem traurigen Grund getan. Im Grunde wusste ich nicht viel davon. Und der Hund hatte jedenfalls nichts damit zu tun. So weit ich weiß. Das Hündchen lebte damals noch. War aber nie dabei. Er erfüllte vielmehr eine wichtige Aufgabe. Er sorgte dafür, dass meine Mutter nicht ganz allein war, nachdem ich irgendwie auch bei Sandra und Katrin und den Hunden eingezogen war. Ich kam manchmal nach Hause, um meine Wäsche zu wechseln, den Kühlschrank zu plündern. Aber mit dem Hündchen und meiner Mutter redete ich dabei nicht. Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass ich mich nicht um sie kümmerte, dass sie mich nicht kümmerten. Sie waren mir egal. Vielleicht sogar lästig.

Das sollte sich wenig später fundamental ändern. Aber das ist auch so eine Eigenart von mir, dass ich die Dinge erst wertschätze, wenn sie unwiderbringlich verloren sind. Ich, so wird aus den bislang geschriebenen Zeilen hinreichend klar, bin insofern eine ganz durchschnittliche Jugendliche gewesen.

Das Hündchen vermutlich auch. Er war ein Pudel. Er war ein Pudelrüde. Nicht gerade des Pudels Kern, aber doch ein reinrassiger Pudel. Von einer Züchterin gekauft. Warum meine Mutter meinen Hundewunsch nicht einfach mit einem Besuch im Tierheim erfüllte, sondern einen Welpen aus einer Zuchtstation besorgte, haben wir später nie thematisiert. Ich war vielleicht 8 oder 9 Jahre alt, als ich den Hund bekam. Und sehr begeistert über sein sehr seidiges, sehr glattes Babyfell, seine tappsigen Bewegungen. Ich hatte wirklich keinen Grund, mich zu beschweren. Und das tat ich auch nicht. Es gibt ein Foto von mir und dem Hündchen mit seinem hellblauen mit glitzernden Steinen besetzten Hundehalsband an dem die dünne blaue Lederleine hing, irgendwo vor dem Haus, in dem wir wohnten. Ich erinnere mich, dass Kirmes war. Unsere Wohnung lag an einer Straße, die direkt zur Kirmes führte. Zu Kirmeszeiten pilgerten unzählbare viele Leute dort vorbei. Und viele blieben stehen, um das Hündchen zu bewundern, um auszurufen: wie süß. Guck mal, der ist ja noch ganz klein. Solche Sachen. Aus irgendeinem Grund machte mich das stolz. Als wäre ich verantwortlich dafür, dass das Hündchen so süß und klein war. Dabei hatte es nur eine Fellfarbe, die sich absolut mit meiner Haarfarbe deckte. Vielleicht war das der Grund, warum meine Mutter bei der Züchterin zugeschlagen hatte. Sie war im Tierheim gewesen, hatte einen Rundgang gemacht und enttäuscht festgestellt, dass es kein einziges Tier gab, dass ein so seidig schwarzes Fell hatte, dass es zu den Haaren ihrer Tochter passte. Sie war sehr enttäuscht. Was wiederum gut war, so konnte sie sich vorstellen, wie es sich für mich anfühlen würde, wenn auch zu diesem Geburtstag wieder Puppen und Puppenkleider, und was man kleinen Mädchen in den 70er Jahren so schenkte auf dem Gabentisch liegen würden, aber kein Hündchen.

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Ich bin im Waschraum des Kindergartens. Allein mit einer Erzieherin. Der Waschraum ist dunkel und gekachelt. Ich bin dort, weil ich Seife gegessen habe.

Andererseits die Erinnerung, dass ich während der Grundschulzeit einmal Seife gegessen habe, weil man mir erzählt hatte, davon bekäme ich Fieber (ich bekam kein Fieber), und ich musste unbedingt einen Weg finden, die anstehende Klassenarbeit nicht mitschreiben zu müssen.

Die Erinnerungen passen nicht zusammen. Sie laufen auf eine Art parallel, die nie dazu führen wird, dass sie einander überschneiden (bei beiden Erinnerungen ist es das erste und letzte Mal, dass ich Seife esse). Es gibt keine Schnittstelle, um daraus eine Geschichte zu machen.

Projektionsflächen der Wahrheit

„Das, was er schrieb, wurde entweder eine Projektionsfläche, die etwas verbarg, oder machte es möglich, die Wahrheit zu sagen.“ (Per Olov Enquist)

Da wo bei anderen Geschichten sind, ordentlich nach Jahren sortierte Begebenheiten, zu dem jeder ein weiteres Detail hinzufügen kann, ist bei mir ein grauer Brei, eine undurchdringliche Masse. Als hätte es mich nicht gegeben. Höchstens eine Stellvertreterin von mir, die auf den Fotos abgebildet ist. Nie ein Foto von Kindergeburtstagen. Als wären allein die Geburtstage der Erwachsenen gefeiert worden. Mit viel Alkohol. Und Tränen.

Vielleicht sind es die Tränen. Die geweinten und die ungeweinten Tränen, die aus den klaren Erinnerungsbildern über die die anderen verfügen, bei mir grauen Brei gemacht haben.

Erinnerungen, Transformationen

Wir sind das Porzellan

das halb fahrlässig zerbricht

In der Küche teilen sich die

Frauen den Abwasch

Während die Männer im

Wohnzimmer rauchen und Schnaps trinken

Kindheitserinnerungen. Unvollständig. Und eher aus Vorurteilen als wirklichen Bildern bestehend. Vielleicht auch aus Wut. Die jetzt langsam kommt. Fast ein halbes Jahrhundert später. Weil Wut besser ist als Verbitterung. Weil Wut manchmal notwendig ist, um Dinge zu verändern, um die Kraft zu finden, sie anders zu betrachten, zu begreifen, dass das, was ist und was war, nicht auf immer so bleiben muss.

Kastanien

Inspiriert von Wald und Höhle, habe ich mich an meinen Großvater erinnert, und an die Kastanien in seiner Manteltasche.

Mein Großvater brummt und mein Großvater kratzt. Mein Großvater hat große raue Hände. Er erzählt Großvatergeschichten. In seiner Tasche hat er immer ein Kastanie. Die schützt alte Menschen vor Rheuma. Die Kastanien findet mein Großvater direkt vor seiner Haustür. Aus dem Küchenfenster, vor dem meine Großmutter tagein tagaus sitzt, sieht man den mächtigen Kastanienbaum. Meine Großmutter bewacht ihn vom Fenster aus, mein Großvater geht vor die Tür und sammelt die Kastanien ein. Eine behält er in seiner Manteltasche. Eine bekomme ich. Sie soll mich beschützen, oder erinnern.

In allen Taschen meiner Jacken liegt eine Kastanie. Braun und glatt, kühl und geschmeidig in der Hand. Wenn ich sie streichle ist es manchmal, als nähme mich mein Großvater noch einmal an die Hand.

Großvater

Ich sitze in der Straßenbahn und überlege, wie eine Geschichte über meinen Großvater anfangen könnte. Diesen Mann, der der Partei (sag es: NSDAP) beigetreten ist, um das Haus für seine Familie zu retten (so geht die Erzählung). Und ich habe nicht gefragt, ob die einfache Parteimitgliedschaft vor Enteignung schütze, weiß nicht einmal, ob er selbst seine Parteizugehörigkeit so begründet hat, oder ob diese Begründung etwas ist, das später dazu gekommen ist. Dabei hätte ich mit ihm darüber reden können. Offene Gespräche konnte ich immer mit ihm führen. Als ich in der Pubertät war, gab es kaum jemanden, der mir so vorurteilsfrei und aufmerksam zuhörte wie er. Dieser Mann, der meine kranke und sterbende Großmutter immer wieder tagelang allein ließ. Derselbe, der die alten Kinderfotos so liebevoll und zärtlich beschriftet hat, dass mir beinahe die Tränen kommen, als mein Onkel sie mir zeigte. (lange nach dem Tod des Großvaters). Ein Patriarch, der für seinen Sohn vor Gericht gezogen ist, weil den ein Nachbar geschlagen hatte. Diese widersprüchliche Fiktion, mit der ich groß geworden, in den Urlaub gefahren und immer wieder lange Gespräche geführt habe, an deren Inhalt ich mich nicht erinnere, aber daran, dass ich stets das Gefühl hatte, ernst genommen zu werden, in all meiner Widersprüchlichkeit.

Alle Erklärungen sind Lügen

Alle Erklärungen sind Lügen. Beschwichtigungen, die uns beruhigen, einlullen sollen.

Als ich meine Diplomarbeit über das Sterben, über den Tod und die menschliche Konstruktion dieser Begriffe und Vorgänge schrieb, wusste ich jeden Tag weniger vom Tod, vergaß mit jeder Seite, die ich schrieb, dass ich sterblich bin.

Es war Soziologie. Es waren Zeitzeugnisse. Viele Notizen, und wenn ich Glück hatte, ab und zu ein paar Verbindungen, die sich aufdrängten.

Es waren Termine bei den Betreuern, der immer näher rückende Abgabetermin, mein Tischapparat in der Universität, und die Entscheidung für ein blassgelbes, oder eher beige-gelbes Deckblatt im Copyshop.

Später habe ich behauptet, der Tod habe mein Leben lang so eine große Rolle gespielt; mein kranker Vater, der starb als ich fünf war, der schleichende Selbstmord meiner Großmutter, der vollendet war, als ich gerade zehn Jahre alt geworden war, der plötzliche Unfalltod meiner Mutter zwölf Jahre später, mein Großvater, der sich zwei Jahre danach erhängte. Ich bildete mir selbst ein, dass ich all diese Todesfälle mit einer wissenschaftlichen Arbeit bewältigen wollte. Aber das ist Unsinn. Ich wollte sie vergessen, ich wollte sie wenigstens so weit von mir wegrücken, dass ich halbwegs normal, halbwegs unbeschwert leben konnte. Und irgendwie hat diese Lüge funktioniert. So gut, dass ich jetzt, zwei Jahrzehnte danach, erkennen kann, dass es eine Lüge war. Wie alle Erklärungen Lügen sind. Wie auch diese Behauptung eine Lüge ist. Und das einzige, was zählt ist der Unterschied zwischen den Lügen, die funktionieren, und den anderen, an die wir umso beständiger glauben, je weniger sie funktionieren.

Grausamkeit

Natürlich ist es nicht so einfach. Es ist nicht so, dass jemand daher kommt und sagt: Fürchte dich nicht, du bist in Sicherheit, und auf einmal überkommt dich eine überwältigende Ruhe und Gelassenheit, so dass du plötzlich ruhig, besonnen, tiefgründig und sinnlich über all diese Dinge schreiben kannst. Über die Seiten an dir, die du verachtest, für die du dich schämst, die du dir auch Jahre später nicht vergeben kannst. Über deine Niedertracht und Feigheit, darüber wie du Wesen, die sich nicht wehren konnten, gequält hast. Über dieses Böse, das von Anfang an in dir gewesen ist. Dass du häufig erfolgreich niedergerungen hast, aber manchmal eben auch nicht. Wie du als Kind den Hund, den du dir so sehr gewünscht hast, malträtiert hast. Vielleicht, könnten manche sagen, nur deshalb, weil du es nicht besser gewusst hast, du warst ja noch ein Kind, und wusstest nicht, was du tust. Aber da waren die Schreie des Hundes, sein Jaulen, seine vor Schreck geweiteten Augen, und natürlich hast du spätestens in diesem Moment verstanden, was du tust. Aber aufgehört hast du nicht.

Lost memories

Lost memories, das stimmt schon, ist kein vollkommen treffender Titel. Für einige der Fotos schon, diejenigen, die ich auf Flohmärkten gefunden, oder geschenkt bekommen habe, aber für viele andere eben nicht. An denen hängen sehr viele Erinnerungen, die dazu führen, dass ich mich verloren fühle, weil es häufig Erinnerungen sind, die ich nicht länger teilen kann. Weil mir schmerzlich bewusst ist, dass diese Momente endgültig vorbei sind. Manche (die meisten) der Menschen auf den Fotos leben nicht mehr, und all das ist etwas, das ich verloren habe. Die Fotos machen mir bewusst, wie viel fehlt. Die Zuversicht, der Übermut, dieser absolute Glaube an alles, mit denen man die Kindheit überlebt, die ja auch immer wieder von Enttäuschungen, von Ohnmachtsgefühlen bestimmt ist (nur dass wir das gerne vergessen). Kindheit, das ist das Leben in der magischen Welt, die irgendwann verloren geht. Und wenig später reiht sich ein Verlust an den nächsten. Als ich die Reihe begonnen habe, habe ich geschrieben, dass mich die Erinnerungen faszinieren, die in diese Bilder eingeschlossen sind, und weder geteilt werden noch dort heraus können. Sie sind Teil meiner Geschichte. Eine Geschichte, die gerade schmerzhaft ist, aber auch schön. Weil es immer darum geht, loszulassen, um würdigen zu könne, was man hat.