Eine eigene Geschichte

Ich lese Sinéad Gleeson, ein Tipp von Pega, und bin verwundert und traurig, wie ernst jemand sich und seine Schmerzen nehmen kann. Ich habe längst nicht so schlimme, lebensbedrohliche Erfahrungen gemacht wie Gleeson, aber ich bin mir wohl auch nie so nah gewesen. Ich habe mich nie auch nur annähernd so ernst genommen. Stattdessen immer wieder den Schmerz verdrängt und Gereiztheit und Rückzug als Verteidigung verwendet. Sinéad Gleeson beweist mir mit ihrer Geschichte, dass es auch anders geht. Dass eine sich mit dem, was geschehen ist, auseinander setzen kann. Den Schmerzen und Verletzungen etwas entgegen setzen kann. Weit mehr als nur Sprache. Eine eigene Geschichte.

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Gelungene Übersetzung der Kälte in Poesie

Mit Kälte hatten wir es in den letzten Monaten ausgiebig zu tun, der Frühling fiel weitesgehend aus, und anlässlich der sich immer länger hinziehenden Pandemie und der damit verbundenen Einschränkungen für jeden Einzelnen, wuchs nach und nach auch die ohnehin vorhandene soziale Kälte. Solidarität wurde von immer größeren Teilen der Gesellschaft als Zumutung empfunden. Angesichts dieser Entwicklung scheint es naheliegend „Kälte“ als Thema einer Ausgabe der Wortschau auszuschreiben.

Dass Kälte über ein meteorologisch und emotionales Phänomen hinaus große ästhetische Varianz entfalten kann, illustriert die seit April vorliegende 37. Ausgabe dieser bemerkenswerten Literaturzeitschrift.

22 Autorinnen, 10 Autoren und eine Künstlerin nähern sich auf über 70 Seiten der Kälte und finden ganz eigene Worte „gegen den kalten abstand“ (Bess Dreyer), oder stellen „schneewiegen neben die zeit“ (Elke Bludau).

Der Zeilenschnee der Wortschau erstreckt sich vom Haiku über experimentelle Lyrik bis zum simultanen kosmopolitischen Tagebuch „Seitenwechsel“.

Es schneit bemerkenswerte Wortschöpfungen wie „Knochensplitterkörperkern“ (Liv Thalstum), bevor die Leserin vor der Entgleisung ein „kurzer Gruß vom Ende der Eiszeit“ erreicht, oder „Buntstifte […] den Schnee ausmalen“ (Ann Kathrin Ast).

Das von der Künstlerin des Heftes, Angelika Eggert, stimmungsvoll illustrierte Heft, versammelt eine gelungene Mischung der Stile und Generationen.

Man betritt die Kältekammer mit der Hauptautorin dieser Ausgabe, Franziska Beyer-Lallauret, die die Leser:innen mit märchenhaft mystischen Zeilen voll geheimnisvoller Schönheit gefangennimmt. Die flankierende Illustration von Angelika Eggert, schwarz-weiß Kombinationen aus Monotypie und Holzschnitt, fangen die schwebende und gleichzeitig untergründige Stimmung der Gedichte ein und erweitern sie gleichzeitig.

Der immer wieder aufs Neue bezaubernde Poedu Teil hingegen präsentiert die ganz besondere Weisheit und kluge Kreativität von Kindern. Seit seinen Anfängen begleitet die Wortschau das Projekt der in Berlin und Barcelona lebenden Autorin Kathrin Schadt, in dem Dichterinnen und Dichter Kindern wöchentlich eine Schreibaufgabe stellen.

Der „Seitenwechsel“ mit dem die Ausgabe der Wortschau abschließt, ist während der Corona Krise entstanden und lässt drei Autorinnen und drei Autoren aus unterschiedlichen Teilen der Welt an einem bestimmten Datum Tagebuchnotizen verfassen. In der Kälte Ausgabe ist es der 31. Dezember 2020, der Johanna Hansen zu Gedanken darüber veranlasst, wie aus anfangen und aufhören, auffangen und anhören wird. Sich wiederholende Gesten des Wartens treffen auf Geduld (David Oates) und die Frage, wie man sich in der Kälte warmhält.

Betrachtungen schieben sich ineinander, nehmen unbewusst Fäden auf, die sie weiterspinnen, um schließlich ein Netz entstehen zu lassen. Ein Gewebe, das Kathmandu, Barcelona, Düsseldorf, Passadena, Sydney, Oregon und Riga mühelos und gleichzeitig außerordentlich gewinnbringend verbindet. Was so entsteht ist ein großartiger philosophischer Teppich aus einzigartigen Gedanken, die so vielleicht nur durch Verbindung entstehen können.

Jeder und jedem einzelnen Beitragenden sowie der Künstlerin gelingt es, die Kälte des Alltags in Poesie zu verwandeln. Der Vorsatz der Wortschau der Kälte das Gespräch entgegenzusetzen, ist in der 37 Ausgabe dieser Zeitschrift aufs Schönste eingelöst. Ein Ansatz, der zeitlos ist und gleichzeitig aktuell.

Kinder kriegen Reproduktion reloaded

„Kinder kriegen“, so eindeutig der Titel dieser Anthologie erscheinen mag, ist nicht nur ein außergewöhnlich relevantes Buch, sondern zeugt zugleich im besten Sinne von Gleichberechtigung. Denn in Reproduktion Reloaded geht es zwar um das „Kinder kriegen“, aber mindestens ebenso um die Tatsache, dass dieses Phänomen Männer ebenso angeht wie Frauen. Die Herausgeberinnen Barbara Peveling und Nikola Richter haben einen vielstimmigen Chor unterschiedlichster Stimmen versammelt. Beiträge, die allesamt Fragen aufwerfen, die uns als Gesellschaft angehen.

Einig sind sich die Texte höchstens darin, dass Kinder zu bekommen, die vermeintlich natürlichste Sache der Welt, etwas ist, dass nicht ausschließlich die Paargemeinschaft betrifft. Tatsächlich sind Kinderwunsch und das Leben mit Kindern immer wieder weitreichende Entscheidungen, umso weitreichender weil sie nicht nur den Körper der Frau betriffen, sondern auch zahlreiche gesellschaftliche Erwartungen und Rollenzuschreibungen. Weil ein Kinderwunsch auch bestehen kann, wo kein Frauenkörper eine Rolle spielt, und weil nicht jeder Frauenkörper automatisch mit einem Kinderwunsch gekoppelt ist. Es ist alles andere als einfach, sich die Veränderungen bewusst zu machen, die damit einhergehen plötzlich als Eltern zu leben, und die Frage der Reproduktion ist niemals eine rein individuelle, sondern immer gleichzeitig gesellschaftlich relevant. Und so einzigartig die Texte, die zumeist biografisch und bewundernswert aufrichtig von der eigenen Verortung und Verwicklung in diesem Themenkomplex erzählen, auch sind, ist ihnen gemein, dass sie neben aller Individualität auch von gesellschaftlichen Einflüssen erzählen, und von der Vielfalt der gesellschaftlichen Relevanz.

Jeder Beitrag erzählt bei aller Individualität von dem Bewusstsein, dass Kinder zu bekommen einen Rattenschwanz an Erwägungen, Veränderungen, Vor- und Nachteilen nach sich zieht, den sich Eltern bewusst machen (müssen), bevor sie eine Entscheidung treffen.

Dabei geht es um den Einfluss, den das Alter auf die Elternrolle spielt. Um den gesellschaftlichen Druck, insbesondere auf Frauen. Aber auch um den jeweiligen Zeitgeist, der es Männern erlaubt, Worte zu finden oder eben nicht, wie der beeindruckende Text von Egon Koch demonstriert, der vor 40 Jahren keine Alternative dazu sah, seiner Partnerin die Entscheidung über eine Abtreibung zu überlassen: „Ja, es war ihr Bauch. Entscheidung ist wohl das falsche Wort. Wir waren ferngesteuert.“

Antje Schrupp setzt sich in ihrem Text mit dem unhinterfragtemPhänomen des „Schwangerwerden könnens“ auseinander. Strukturpolitisch fundiert erklärt sie wie weitreichend sich eine Tatsache auswirkt, die eine Fülle von Fragen aufwirft, über die wir uns als Gesellschaft kaum auseinandersetzen.

Fragen, die darüber hinausgehen und gleichzeitig damit zu tun haben, dass die Rollenerwartungen an Männer und Frauen diffuser und unübersichtlicher geworden sind. Was keinesfalls mehr Freiheit für die Eltern bedeutet. Nicht zuletzt weil wir als Gesellschaft von einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf immer noch weit entfernt sind.

Nichts wird in dieser Anthologie ausgespart, weder Leihmutterschaft noch Reproduktionsmedizin, oder das Tabu über tote Kinder zu reden, über Fehl- und Totgeburten. Darüber, wie es sich mit einem toten Kind lebt, und damit, dass die Mutter mit der lebendigen Leerstelle irgendwann sehr allein ist. Julia Faust hat dazu einen schmerzhaft wahren Text geschrieben. Dennoch: trotz all der Schwere, trotz der Fülle an längst noch nicht überwundenen Problemen, ist Kinder kriegen eine fesselnde Lektüre, man liest die Beiträge gerne, weil sie so lebensnah und vor allem aufrichtig sind. Und allesamt eine hohe literarische Qualität aufweisen.

Auf bedrückende Weise erhellend sind auch die Texte über Rassismus und Sexismus, der von innen oder außen die Familie angreift, geschrieben von Andrea Karimé und Ulrike Draesner, die ihre Geschichte vom Leben mit einem nichtgrünäugigen Kind in die Möglichkeit zu Offenheit und Verbundenheit münden lässt, wenn sie in Aussicht stellt, „[…] dass die Frage: Wo kommst du (eigentlich) her? ersetzt wird durch die Frage: Wo wollen wir hin? Wir, zusammen.“

Nicht nur in diesem Sinne ist es sehr stimmig, dass die Textsammlung mit einem kollektiven Text des Netzwerkes WRITING WITH CARE/ WRITING WITH RAGE abschließt, denn um Einigung oder Einigkeit kann und soll es in diesem Buch nicht gehen, sondern um Gesprächsbeiträge, die in ihrer Offenheit Widerspruch und/oder Ergänzung hervorrufen. Nicht um am Ende ein vollständiges Bild entstehen zu lassen, aber um die Grundlage für eine fundierte Auseinandersetzung bereit zu stellen.

Dag Solstad

Ein Buch, das mich über die Maßen erstaunt hat, weil es wirklich noch ein Mal eine ganz andere Art zu schreiben offenbarte, war 16.07.1941 von Dag Solstad. Einem norwegischen Autor, den ich bis zu dieser dank Ina Kronenbergers Übersetzungsleistung, nicht kannte. Eine echte Entdeckung. Eigentlich hatte ich das Buch für Fixpoetry besprechen wollen, nun ist es in unserem OWL Kulturportal entschieden.

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Mariannengraben von Jasmin Schreiber. Sehr angetan von der zarten eindringlichen Schilderung der Trauer. Enttäuscht über das für meinen Geschmack zu schnell einsetzende skurrile Geschehen. Gar nicht einmal die Begegnung mit dem alten Mann, aber die fast slappstickartigen Begebenheiten. Aber schön und tröstend, dass Tim, der verstorbene Bruder, immer dabei bleibt, kommentierend einbezogen, anwesend. Denn das ist vielleicht der größte Irrtum, dass die Toten plötzlich nicht mehr zum Leben dazu gehören. Nicht mehr da sind.

Anna Mayr – „Die Elenden“

Anna Mayrs „Die Elenden“ habe ich mit wachsender Wut gelesen.

Normalerweise beginnen die Rezensionen zu ihrem Buch mit dem Hinweis, dass Mayr weiß wovon sie spricht, wenn sie von einem Leben mit Hartz IV schreibt. Davon, dass sie ein Kind von Langzeitarbeitslosen ist und sich „hoch“ gearbeitet hat. Tatsächlich ist ihr Buch aber viel eher eine Streitschrift, als eine persönliche Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft, wie sie Didier Eribon, Annie Ernaux, oder jüngst auch im deutschen Sprachraum Christian Baron vorgestellt haben. Mayr geht es darum das System durchsichtig zu machen, das Arbeitslose gleichzeitig verachtet und für den eigenen Fortbestand unentbehrlich braucht. Was Mayr anstrebt, ist einen anderen Blick auf die Menschen, die politisch und sozial als Bodensatz der Gesellschaft angesehen werden, zu ermöglichen. Es ist das gleiche Phänomen, von dem auch Mely Keyak in ihren Buch „Frau Sein“ spricht, der Arbeitlose und die Fremde werden weder gehört noch gesehen, sie sind das fremdbestimmte Andere, über das gesprochen wird, ihre eigene Stimme kommt nicht vor. Das bedeutet Ausgrenzung, Leben am Rand.

Die Menschen, die als Arbeitslose gebrandmarkt werden, erscheinen als „Kollateralschaden“ einer Marktlogik, in der es um Wachstum und Gewinne geht. Und die abschreckende Beispiele braucht. Eine ausgegrenzte Gruppe von Menschen, die so heterogen sind, dass „sie nie eine Form von Zusammenhalt herstellen können“, so Mayr, weil die Arbeitslosen „ausschließlich in dieser Abgrenzung [existieren] – nicht aber als Gruppe mit gemeinsamen Wünschen und einem geteilten politischen Willen.“ Wozu sicher auch die Scham beiträgt, der Mayr mit diesem Buch ein trotziges Verständnis, einen tiefen Einblick, entgegensetzt. „Die Elenden“ ist nicht zuletzt ein Bekenntnis zu den Arbeitslosen. Es gibt sie, und es gibt sie aus systemimmanenten Gründen, die in nicht in der Persönlichkeit der Betroffenen liegen. Etwas, das immer wieder vergessen wird, sofern es überhaupt im Denkmuster vorkommt. Denn Arbeitslose sind Menschen, die man nicht selbst zu Wort kommen lässt, die man nicht fragt, was sie brauchen, woran sie leiden, sie sind vielmehr eine Personengruppe, die immer wieder entmündigt und vorgeführt werden, aber ganz sicher nicht ernsthaft angehört. Sie werden, so Mayr „strukturell entmachtet“. Mayrs Vorhaben in diesem Buch ist nicht zuletzt „eine unpeinliche Stellungnahme für die Unterdrückten“. Das „was fehlt, ist eine Form des Verständnisses füreinander, die nicht auf Adaption beruht, sondern auf Empathie. Dazu gehört Verständnis in die Umstände, weshalb Mayr immer wieder kluge und detaillierte historische Hintergründe zur Verfügung stellt. Angefangen bei Luther und Calvin und der Geburt der protestantischen Arbeitsethik, entwickelt sie den Selbstzweck von Arbeit und die Überzeugung, dass nur wer arbeitet, vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sein darf. Arbeitslose werden so zur Projektionsfläche für alles, was man ablehnt, und wovor man Angst hat.

Worauf Mayr in all ihren klugen und differenzierten Betrachtungen nicht eingeht, ist die Tatsache, dass Care Arbeit vielleicht nicht gleichermaßen verachtet wird, wie arbeitslos zu sein, aber zumindest unsichtbar bleibt, obwohl sie ein derart grundlegender Stützpfeiler der Gesellschaft ist, dass alles zusammenbrechen würde, wenn Frauen sich von heute auf morgen weigern würden, diese Arbeit weiterhin selbstverständlich und unentgeltlich zu leisten. Denn Arbeit, so argumentiert bei allem kritischen Potenzial auch Anna Mayr, ist nur das, wofür Geld gezahlt wird.

Die angebliche Unterstützung für die Arbeitslosen, Menschen die durch das gekennzeichnet sind, was ihnen fehlt, nämlich Arbeit, kann in nichts anderen als paternalistischer Belehrung bestehen, weil ein anderer Umgang mit den systemunkompatiblen Verlieren gar nicht denkbar ist. Denn dafür müsste man von den unhinterfragbar selbstverständlichen bürgerlichen Ideen absehen, um das andere zu erkennen, statt es nur immerzu als minderwertig abzuurteilen und auszuschließen. Nirgendwo, bei keiner der Hilfsmaßnahmen, ist derjenige, der die Hilfe bekommt die Referenzgröße, was sich nicht zuletzt darin manifestiert, dass wir die Hartz IV Empfänger nicht als arm bezeichnen, sondern als „sozial schwach“.

Es ist schon die Sprache, die nicht von Armen spricht, sondern von sozial Schwachen, eine Begrifflichkeit, die die Verantwortung an den Einzelnen mit seiner sozialen Schwäche delegiert, um gar nicht erst die Idee aufkommen zu lassen, es könnte etwas am Gesellschaftssystem nicht stimmen, es könnte da Lücken und Fehler geben, die politisch angegangen werden müssten. Es könnte gar ein jahrzehntelanges politisches Versagen verantwortlich dafür sein, dass die Ungerechtigkeit nur verwaltet, aber nicht bekämpft wird.

Alles läuft darauf hinaus, dass man staatlicherseits überzeugt ist, dass die „Sozialhilfeempfänger“ sich gar nicht selbst helfen können, dass sie von fähigeren erfolgreicheren, weil über Arbeit verfügenden, Menschen angeleitet und auf den rechten Weg zurückgeführt werden müssen (wobei weder Umschulungen noch Ein Euro Jobs tatsächlich das Ziel einer Eingliederung verfolgen…) Die Armen werden so weit entmündigt, dass sich der Staat, vertreten durch das Job Center, sogar herausnimmt, zu entscheiden, welches Hobby ein armes Kind mithilfe des „Teilhabepakets“ ausüben darf: Fußball ja, Ballett nein.

Andererseits basiert das, was Mayr berichtet, wie sie die Fakten dokumentiert und wiedergibt, ein Stück weit auf einer Fürsorgepflicht des Staates (der aber nicht überwachen und strafen soll). Dabei geht es ihr um den wesentlichen Unterschied zwischen Pflichtschuldigkeit und Unterstützung.

Besonders empörend ist, wie Kinder von Hartz IV Empfängern systematisch benachteiligt werden: „Es gibt kein Höchsteinkommen für Kindergeld. Jedes Kind hat ein Anrecht darauf. Nur die Kinder von Arbeitslosen bekommen faktisch kein Kindergeld, weil es auf deren „Bezüge“ angerechnet wird: Kindern steht ein bestimmter Hartz-IV-Regelsatz zu, aber das Jobcenter überweist diesen Regelsatz nicht komplett, sondern zahlt nur die Differenz zwischen Regelsatz und Kindergeld.“

Es wäre, darauf läuft Mayrs Argumentation klar hinaus, das Geld, das „die Elenden“ zu gleichberechtigten Mitgliedern der Gesellschaft machen würde, Geld, das vorhanden ist, aber in andere Kanäle gelenkt wird, in Verwaltung und Überwachung, in Sozialarbeiter und Vermittler von Arbeit, die es eigentlich nicht gibt, das ist schlimm genug, wenn es Erwachsene trifft, aber es ist und bleibt ein Skandal, wenn auf diese Weise Kinder von Anfang an von Chancengleichheit ausgeschlossen werden, wenn sie von Anfang an, abhängig sind, nicht nur von den Eltern sondern auch von der Stellung der Eltern, wenn sie nicht nach ihren Talenten gefördert und beurteilt werden, sondern nach der Arbeitslosigkeit ihrer Eltern. Mayrs Buch ist ein Beitrag, der dafür kämpft, dass die Gesellschaft endlich die Ungerechtigkeit anerkennt aufgrund der „Tausende Kinder zurückbleiben, die ohne soziales und kulturelles Kapital aufwachsen und ohne ein Umfeld, das ihnen die Hand reicht. Tausende potenzielle Genies, in Vorstädten, in Plattenbauten, in Flüchtlingsunterkünften, die ihre Möglichkeiten niemals entfalten werden. Denen wir allenfalls so viele Almosen geben, dass sie nicht kriminell werden und nicht ganz so krank.“

Aber das nimmt man (gerne) in Kauf, damit „Arbeitslosigkeit und der Gedanke an die Arbeitslosen Furcht beim Rest der Gesellschaft auslösen. Abstiegsängste. Abgrenzungsbedürfnisse. Und dass der Kapitalismus diese Furcht braucht, um zu funktionieren […]“

Mayr macht die nur vorgeblich alternativlose Einseitigkeit der Maßnahmen nicht nur deutlich, sie zeigt dass sie so sind, weil immer nur aus Sicht der vermeintlichen Gewinner auf das „Problem“ geschaut wird, weil es nur um die Sicht der Arbeitgeber geht, um die Finanzen, die Steuern, den Haushalt. Um Menschen, gerade um die vom System abgehängten, geht es nicht. Es ist ähnlich wie bei den Geflüchteten, der Unwille (und eben nicht das Unvermögen) Menschen einen Vertrauensvorschuss zu schenken, damit sie die Gesellschaft mit gestalten können, fehlt, stattdessen schüren Medien und Politik lieber die Angst vor gewissen Personengruppen. Vielleicht liegt es daran, dass ich Mayrs Buch lese, während die Lager in Moria brennen, aber ich kann nicht umhin in der Angst vor der Überforderung angesichts einer humanitären Notlage eine Fortsetzung der in den 90er Jahren etablierten Vorstellung vom „Sozialschmarotzer“ zu sehen. Und in allen Fällen speist sich politisches Handeln aus dem unbedingten Willen zum Machterhalt für den immer wieder humanitäre und soziale Grundsätze geopfert werden.

Mayr bleibt allerdings nicht bei ihrer fundierten Kritik stehen, sie zeigt auch Alternativen auf. Die sieht sie in erster Linie im Wechsel von affirmativen zu transformativen Maßnahmen. Wobei affirmative Maßnahmen im wesentlich den Status Quo erhalten, während transformative auf eine Veränderung einwirken würden. Auf jeden Fall ist dieses Buch eine Streitschrift dafür, die Denkstrukturen zu ändern, zu hinterfragen. Das Wertvolle der Streitschrift ist der Blickwinkel aus dem Ideen und Maßnahmen betrachtet werden. Die Schlussfolgerung, dass Ungleichheit eine Gesellschaft ungerechter und ängstlicher macht, zeigt sich längst jeden Tag auf den Straßen und in den sozialen Netzwerken. „Angst schaltet unsere Empathie aus und versetzt uns in einen Flucht- und Kampfmodus […] Rassismus und Verschwörungstheorien [sind] gefährlicher, wenn sie auf Perspektivlosigkeit treffen.“ Das ganze Buch ist ein Plädoyer für die Wut als Ersatz für die Angst. Mayr hat den Mut, die Dinge zu benennen: „Bildung und Chancen sind nichts wert, wenn sie auf Armut treffen.“

Viel weniger langatmig und dafür mehr auf den Punkt hat Marina Büttner das Buch auf ihrem Blog besprochen, darum feile ich jetzt nicht länger an meiner Besprechung, sondern verweise auf diesen Beitrag, mit der eindringlichen Empfehlung das Buch selbst zu lesen.

Isabelle Lehn – Frühlingserwachen – wieder keine Rezension

In der Volltext kürzlich einen schönen Artikel von Jan Wilm über Isabelle Lehn (und Eileen Myles, mit deren Buch ich allerdings sehr wenig anfangen konnte) gelesen, und neugierig geworden auf ein Buch, das Wilm zu diesen ziemlich wertvollen Überlegungen zum Scheitern bei Lehn gebracht hat: „Die entscheidende Dynamik des Romans ist eine Beckett´sche – das bessere Scheitern, no matter, try again, fail again, fail better. Es ist Isabelle nicht nur egal, dass sie scheitert. Ihr Scheitern ist eine Entscheidung fürs Scheitern – und die Entscheidung nimmt der Existenz-Kontingenz die schicksalhafte Kraft und macht aus Opfer Akteur.“

Das Buch wollte ich lesen. Und als ich es dann zu lesen anfing, die schöne, immer wieder erstaunliche Erkenntnis, dass auch andere das kennen: sich selbst müde sein.

Andererseits eine seltsame Erkenntnis, dass ich mich hier vor fast 20 Jahren wiederfinde, wie ich mich damit auseinanderzusetzen versuche, zu altern. Seit so langer Zeit schon. Und ich werde nicht fertig damit.

Aber darum geht es eigentlich nicht. Eher um solche Stellen:

„Ich bekomme auch graue Schamhaare. Es sieht wie angeschimmelt aus, es muss ein Irrtum sein, und ich fühle mich von meinem Körper betrogen. Es ist bloß Melanin, sage ich mir, und trotzdem fühlt es sich falsch an: der Gedanke, vielleicht doch noch ein Kind zu kriegen, irgendwann später, wenn das erste, was dieses Kind von der Welt sehen wird, das graue Schamhaar seiner schimmelnden Mutter ist.“

Ich meine, ja, das ist witzig. Und überspitzt, und trotzdem charakterisiert so eine Überlegung ja nicht nur die Figur, sondern ist etwas typisch weibliches. Weil, behaupte ich mal, ein Mann, selbst wenn er derjenige wäre, der die Kinder zur Welt bringen würde, sich niemals derartige Gedanken machen würde. Und wir Frauen müssten das doch auch nicht. Warum ist es dann trotzdem gar nicht abwegig, dass eine Frau so denkt?

Für eine Antwort kann man endlos lange wissenschaftliche Theorien heranziehen, oder sich ehrlich fragen. Sich einfach so, ohne wissenschaftliche oder sonstwie zitierfähige Quellen, dieser unbequemen Frage stellen. Humor macht es sicher weniger lamoryant. Weniger schmerzhaft nicht.

Bei Lehn klingt das so:

„Die Wahrheit über die Erfahrung als weiblicher Körper ist das damit verbundene Bewusstsein der Scham. […] Der Körper, der von mir erwartet wird, ist weder stumm noch zu laut, weder wütend noch traurig. […] Mein Körper, der an sich leidet und immerzu etwas vermisst.“

Erwartungen, Scham, Ungenügen, Mangelhaftigkeit. Als typisch weibliche Erfahrungen.

Und was eine Frau daraus machen kann.

Ehrlich zu sich selbst sein, und Kohärenz und Schönheit in das Scheitern bringen, ohne es (das Scheitern, das Versagen und nicht fertig werden) zu verbergen. Vielleicht ist es in allererster Linie das, worum es mir geht. Was mich befreien könnte. Mir so eine Grundehrlichkeit erarbeiten, die ja letztendlich auch Freiheit ist. Befreiung.

Und noch einmal Lehn:

„Dabei glaube ich an den Verstand. Ich glaube an den freien Willen, die Kraft der Gedanken, die Selbstheilungskräfte des Körpers durch Achtsamkeit, an die Gnade der späten Geburt, ich glaube an unverdiente Privilegierung und sogar daran, ein gutes Leben zu führen. Aber ich glaube auch an Stoffwechselstörungen. Ich glaube an Biochemie, Serotoninmangel und erhöhte Entzündungswerte, an Schlafmangel und Reizüberflutung, ich glaube an Erschöpfungszustände. Alkohol und Nikotin, an Penetration und die Sehnsucht nach Selbstaufgabe. Ich glaube an die Würde des Scheiterns, an die Komik des Leids, ich glaube an die Schamlosigkeit, an die Stärke der Schwäche, die Wirksamkeit von Psychopharmaka und an das Recht darauf, mir helfen zu lassen.“

Ich bin durchaus nicht immer einer Meinung mit der Isabelle Lehn aus Frühlingserwachen, aber ich mag diese Art zu schreiben, dieses teilweise essayistische. Die Verbindung von wissenschaftlichen Zitaten und Tagesnachrichten mit persönlichen Erfahrungen, Erlebnissen, Bekenntnissen.

Im Grunde genommen leide ich immer noch unter diesem Irrglauben, es gäbe richtig und falsch, und richtig bedeutet alles zu berücksichtigen und so allein durch Fleiß und Einsicht zur ultima ratio zu gelangen. Nicht durch Auseinandersetzung und Kompromisse.

Die Auseinandersetzung lese ich lieber als sie selbst zu praktizieren, vielleicht auch im Glauben, ich könnte es durch das Lesen der richtigen Bücher lernen. Ein Glaube, der mich schon sehr lange begleitet. Und den ich auch gar nicht aufgeben will.

Wie dem auch sei, in Lehns Frühlingserwachen sind mir die Stellen an denen die Protagonistin über ihren Körper spricht wichtig. Da ist auf einmal die Freundin, die ich eigentlich nie hatte. Die über diese Blutmassen spricht, die während der Menstruation aus einer herausfließen, über die Bauchkrämpfe und all die peinlichen Situationen, wenn Frau die Kleidung durchgeblutet hat, wenn man Nachts von einem Schwall Blut geweckt wird, den kein Tampon aufsaugen zu können scheint. Als meine Freundinnen und ich das erste Mal die Regel bekamen, sprach man höchstens verschlüsselt und verschämt von der „Tante aus Bad Rothenfelde, die zu Besuch war“. Und auch später fühlte ich mich immer allein mit dem Gefühl alle drei Wochen mindestens 5 Tage ziemlich eingeschränkt zu sein, in dem was ich tun konnte, immer ängstlich darauf bedacht, nicht irgendwo Blutflecken zu hinterlassen.

Glücklich meine Tage zu bekommen, war ich nur dann, wenn ich befürchtete, schwanger zu sein. Eine der schönsten Nebenwirkungen der dann einige Jahre später sehr gewollten Schwangerschaft war das Ausbleiben der Regel.

Die Frauen in meiner Umgebung, die überhaupt über so etwas sprachen, fanden es unbegreiflicherweise schön zu bluten. Sie fühlten sich gut oder sogar noch besser. Also musste das Problem eindeutig bei mir liegen. Ich hatte es nicht im Griff. Ich hatte eine falsche Einstellung zu meinem Körper.

Erst kürzlich erzählte mir eine Freundin, sie wolle gar nicht wissen, ob sie schon in der Menopause sei (aus irgendeinem verhütungstechnischen Grund blutet sie nie). Sie möchte sich lieber weiter als „richtige“ (sic!) Frau fühlen. Und jetzt habe ich dank Isabelle Lehn (und Liv Strömquist. Dazu bald mehr) wenigstens einige für mich außerordentlich befreiende Sätze, die mich glauben lassen, dass vielleicht gar nicht ich es bin, die falsch ist. Dass der Fehler an einer ganz anderen Stelle zu suchen ist.

Ich habe jetzt zugegebenerweise sehr viel mehr über mich als über Isabelle Lehns Buch geschrieben. Über das Buch selbst kann man hier und hier und hier nachlesen oder hören. Oder noch besser: gleich das Buch selbst lesen.

Entwicklung

Wenn ich lese, wie jemand ein Gedicht, das mich nicht angeht, das ich bestenfalls merkwürdig, oder eher seltsam finde, argumentativ zum Meisterwerk kürt, hat mich das bis vor kurzem beschämt. Weil ich ja nicht erkannt habe, wie großartig und wertvoll das, was ich gelesen habe, in Wirklichkeit ist. Jetzt zucke ich mit den Schultern und denke mir, dass Gedichte, die mir viel bedeuten demjenigen, der hier von Meisterwerken geschrieben hat, womöglich völlig unberührt lassen. Und beide haben wir das Recht auf unsere Leseweise und darauf, uns übereinander zu wundern.

Insa Wilke über Allegro Pastell

Die unglaublich kluge Insa Wilke liefert den ersten für mich wirklich überzeugenden Interpretationsansatz dafür, warum Leif Randts Allegro Pastell doch einen literarischen Mehrwert hat. Nicht als „Jugendbewegung“ (Zeit oder SZ, ich bin jetzt zu faul, das nachzurecherchieren), oder soziologische Analyse, sondern als die Geschichte von Engelein im Paradieschen. Abgehoben und ziemlich leidenschaftslos. Das erklärt vieles, und macht das Ganze plötzlich zu einem ästhetisch und formell ausgefeilten Experiment. Dessen Form trotzdem nicht so abgehoben ist, dass man es nicht auch ohne diesen Hintergrund lesen könnte und kann. Wilkes Ansatz zu kennen behebt aber, zumindest bei mir, die Irritation und leichte Ratlosigkeit, die ich beim Lesen empfunden habe. Eben weil das alles so leidenschaftslos und lau ist, wie es vor dem Hintergrund sein muss.