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Schon in den Stationen taucht der Schlaf auf. Ketten aus Schlaf ist der Titel des ersten Gedichts.
Der Schlaf, zeigt Carson an Virginia Woolfs „Fahrt zum Leuchtturm“, ist ein Urzustand, eine Leere, und als solche noch voller Möglichkeiten, eine Art Wirklichkeit, die gerade darum so wirklich ist, weil sie durch keinerlei Ausdruck begrenzt worden ist. Genau an der magischen Grenze zwischen Nichts und Etwas. Wahrnehmbar, spürbar, aber nicht zu fassen.
Mühelos (traumwandlerisch trifft es in diesem Zusammenhang vielleicht besser), gelingt es Carson Brücken zu schlagen von den eigenen Träumen zu antiken Riten (Asklepidos), von Virginia Woolf zu Homer, von Kant zu Monica Vitti.
Der Schlaf fungiert als Leerstelle, als Möglichkeit etwas zu erkennen, das wir nicht fassen können. „Nämlich die Leere in den Dingen, ehe wir unseren Nutzen aus ihnen ziehen, einen Blick auf die Wirklichkeit vor ihren Wirkungen.“
Ich glaube das will Carson in diesem Buch, diese Leerstelle umkreisen, diese Blase beschreiben.
So schreibt sie z.B. über Longinus Abhandlung vom Erhabenen: „Man schließt die Lektüre dieser vierzig (unvollendeten) Kapitel ohne eine klare Vorstellung davon ab, was das Erhabene denn nun eigentlich ausmacht. Aber ihre Dokumentationstechnik elektrisiert.“
Und ich habe das Gefühl, sie beschreibt eigentlich ihre Art zu schreiben.
Carson erzählt nichts nach und eignet sich nichts an, vielleicht weil sie immer ihre eigene Definition eines Zitats im Kopf hat, „Ein Zitat (das als englisches quote mit der Quote [quota] zusammenhängt) ist ein Abschnitt oder Ausschnitt, das Stück einer Orange, die einem nicht gehört. Man saugt das Stück aus, wirft die Schale weg, läuft weiter. Das Vergnügen an einer Dokumentation spiest sich zum Teil daraus, dass ihr etwas von Gaunerei anhaftet. Jemandes Leben oder Sätze zu plündern und dabei mit einem Standpunkt davonzukommen, den man „objektiv“ nennt, weil sich alles in ein Objekt verwandeln lässt, wenn man so damit umgeht, ist aufregend und gefährlich. Sehen wir uns an, wer die Kontrolle über diese Gefahr hat.“
Genau das tut sie ständig, sie sieht sich an, wer die Kontrolle hat.
Sam Anderson schreibt in der New York Times über Carson: This, I think, is the best catchall description of Carson. Wherever she goes, whatever she does, she is always a “visiting [whatever].”
Es ist dieses Verhalten Carsons als Besucherin, zurückhaltend, eben wie jemand, der die Dinge ansieht, ohne sie in Besitz zu nehmen, ohne ihnen ihre eigene Begrifflichkeit aufzuprägen (whatever), die ihre Sätze, ihre Art zu dokumentieren, derart elektrisierend macht. Fordernd, ohne auszuschließen.
Sie führt ein Gespräch. Mit sich selbst, mit den Gedanken anderer, aber auch und immer, mit dem Leser.