Der stumme Baum wächst
ich stelle meine Fragen
unter sein Blätterdach
Der stumme Baum wächst
ich stelle meine Fragen
unter sein Blätterdach
Scham
jeder Schluck
ließ die Stille explodieren
also hörte ich auf
zu trinken
Die Sätze werden immer kürzer, obwohl die Tage doch langsam merklich länger werden. Ich schreibe nicht wenig, werde aber immer skrupulöser wenn es ums Herzeigen des Geschriebenen geht.
Mein Verleger, der ja in erster Linie ein ganz wunderbarer Mensch und dann ein sehr mutiger Dichter ist, hat den Peter Huchel Preis gewonnen. Und ich habe das Gefühl, er hat ihn für uns alle gewonnen. Die Jury hat damit einen Weg eingeschlagen, weg von den formal unendlich anspruchsvollen Gedichten, von Gedichten, bei denen Literaturwissenschaftler:innen außer sich geraten, andere Leser:innen sich aber leider bestätigt sehen in ihrer Ahnung, dass Gedichte doch eher nichts für sie sind. Denn Dinçer Güçyeter schreibt in enger Verbindung zum Kind, das er gewesen ist, er schreibt so wie er lebt und denkt, allen und allem zugewandt, mit einem riesengroßen offenen Herzen und ohne Dünkel, aber eben auch ohne zu viel Respekt vor Feuilleton und Literaturbetrieb etc. pp. Er schreibt, weil er zuhört. Und wer ihn liest, findet sich oder wenigstens sehr viel Wärme und Radikalität, also Ermutigung und Verständnis.
Ein sehr besonderes, sehr beeindruckendes Buch. Bereits „die idiotische wucht deiner wimpern“ war ein Gedichtband, der ganz eigen war, auf eine sehr anregende Weise. Daher habe ich mich deswegen gefreut auf Sünje Lewejohanns neuen Band. Und dann kamen diese Gedichte mit Krallen und Zähnen und Fell, und vor allem mit einer sagenhaften zärtlichen Wucht, die mich schon beim letzten Band begeistert hat. Aber dieses Mal erzählen die Gedichte ein Drama in drei Akten, Drama einer (schwierigen) Liebe, Drama einer Krankheit (Depression), Drama von Ichverlust und Heilung.
Dabei sind die Gedichte Protokolle der Gegenwart, nüchtern und hart und gleichzeitig (also wirklich gleichzeitig!) Beschwörungen voller Magie. Als Beispiel vielleicht dieses Gedicht:
DER FUCHS BIN JETZT ICH
der winter beginnt in den fenstern und
zieht dann langsam zu uns hinein.
er kommt von den kahlen apfelbäumen
im garten unter denen im sommer
der fuchs gerufen hat. dieser
seltsame, kehlige schrei.
ich wünschte, ich könnte
vergessen, wie ich hier gelandet bin.
ich wünschte, ich könnte in eine
tiefe ohnmacht fallen und in ihr
alt werden.
ich überspringe ganze tage.
du hast mal gesagt, es sei einer
der heißesten sommer gewesen.
jetzt weht die kälte mitten durchs haus
und weckt uns früh.
ich nenne unsere schlechten tage
die dunklen tage
ich stehe am küchenfenster, blicke über das feld.
ich kann den schrei noch immer hören.
abrakadabra. der fuchs bin jetzt ich.
„ALS ICH NOCH EIN TIER WAR“
Ich könnte noch zahlreiche weitere Gedichte zitieren, eigentlich jedes. Kein einziges lässt mich kalt!
Ich träume dass ich vergesse
dass ich begraben worden bin
ich träume nicht von Prinzen und Hochzeiten
Ich träume von Drachen die ich besiege
und von 12 goldenen Tellern
deren Scherben
ich ihnen unter die Zunge reibe
Wir baden aus
was du vergessen hast
wir baden dein vergessen aus
wir baden dein versagen in unserem vergessen
wir baden das klagen in unseren tränen
wir untersagen das baden im vergessen
wir errichten listen
wir pflanzen bäume an
wir rotten räume aus
wir kultivieren die angst
wir baden die wehrlosen in ohnmacht
wir schneiden die haare und kürzen den weg
wir sind zeugen des werkes
wir bezeugen das werkzeug
das sind wir
wir rühren die trommel
aber keinen finger
Immer wenn ich versuche
die Fragen meines Therapeuten
zu beantworten
ertappe ich mich beim Lügen
ich rede schneller
weil Lügen kurze Beine haben
kurz bevor ich völlig atemlos bin
endet die Sitzung
erschöpft sitze ich
vor einem plötzlich leeren Bildschirm
allein mit meiner Ratlosigkeit
mit den nicht zu streichenden schwarzen Stellen
mit den gestrichenen Wahrheiten
Die Tafel ist reich gedeckt
mit ungünstigen Vergangenheiten
die sich ins Jetzt rekeln
Ebenso wie dein Gesicht
werfen sie Falten
die das Antlitz der Gegenwart bestimmen
Vielleicht weil ich zu viel zu erzählen hätte, lieber ein Bild. Wer dennoch etwas lesen möchte, dem sei wärmstens der Artikel im Freitag von Alexandru Bulucz über Dincer Gücyeter empfohlen. Bin mächtig stolz, oder vielleicht passt glücklich besser, so einen wunderbaren Menschen und Dichter als Verleger zu haben.
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