Der Hibiskus blutet – Elisabeth Masé

Fäden und Fadenscheinigkeit, überall wo erzählt wird. Wir weben Muster weiter, trennen sie auf. Die Geschichte von Penelope ist auch die Geschichte vom Erzählen. Die Grundbedingung dafür im Erzählen eine Heimat zu finden.

Elisabeth Masé hat den roten Faden in manche ihrer Bilder gestickt. Mutterbilder einer anderen Art, verschlossene Münder und statt neuem Leben den Tod im Schoß.

Fäden, die mich an Ariadane und Penelope erinnern, an Annegret Soltau und natürlich an Louise Bourgeois: die Spinne als Mutter, das Netz von Familie und Kindheit, in dem wir gleichzeitig gefangen und geborgen sind.

Und vielleicht geht das alles auf diesen Faden zurück mit dem wir am Anfang unseres Lebens verbunden sind: die Nabelschnur.

Diese Verbindung: Verletzung und Heilung zugleich. Ausdruck unserer Doppelnatur, oder unserer Verlorenheit zwischen gegensätzlichen Polen.

Dass die Zeichnungen so zart und fein sind, macht die Gewalt in ihnen noch grausamer, verstörender. Weil sie nichts zerstört, die Bilder bleiben fein und zart. Das Böse macht seinen Hintergrund nicht hässlich, die Trennlinie ist nicht so einfach auszumachen. Und das macht die Gewalt in diesen Zeichnungen noch … Ja, was eigentlich? Sanfter? Erträglicher? Zwangsläufiger?

Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass die zarten Zeichnungen eine besondere Verbindung eingehen mit der darin ausgedrückten Gewalt. Seit einigen Jahren malt Elisabeth Masé auch mit Worten und so findet man in diesem wunderschönen Buch neben den von Martin Brockhoff sorgfältig abfotografierten Zeichnungen die titelgebende Geschichte „Der Hibiskus blutet“, „Think Pink“ , zwei Geschichten voller Farben, auch Gedichte. Eines davon beschreibt perfekt die Stimmung, die das gesamte Buch und die dort versammelten Zeichnungen bestimmt:

Kinderlied

Mein Haus hat ein Fenster,

ein Fenster aus Blei.

Ich wart auf Gespenster

und lege ein Ei.

Bald wird man mich bitten,

ans Fenster aus Blei.

Ich drohe mit Tritten

und Kindergeschrei.

Im Frühjahr zersägst du

mein Fenster aus Blei.

Ich beiß dich, ach leck mich,

verschluck dein Geweih.

Im Sommer da treib ich

im feuchtwarmen Nest.

Ich plag dich, du jagst mich

und bist nicht mehr nett.

Im Herbst fall ich lallend

gefallenes Laub

und schließ meine Augen

und werde zu Staub. 

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Max Klinger

Der Spaziergang, Max Klinger, 1887
 Spaziergänger, Max Klinger, 1887

Eines der Bilder vor denen ich die längste Zeit verbracht habe, als wir in der alten Nationalgalerie waren, war der Spaziergang von Max Klinger aus dem Jahr 1878.

Dieses Bild gehört zu den ersten Bildern, die Max Klinger öffentlich ausstellte.

 

 

Allgemein wird „Spaziergänger“ (später „Der Überfall), wie das Gesamtwerk Klinger, dem Symbolismus zugerechnet. Was mich aber daran fasziniert hat, war das traumhafte Element. Die langen Schatten, die Leere und die Art und Weise wie hier ein Moment eingefroren ist.

 

 

All dies wird man in den Bildern surrealistischer Maler wiederfinden. – Nicht zuletzt der Umschlag von Lapidarität und Nüchternheit ins Unheimliche („Die Mauer macht den Eindruck, als bedeute sie die Grenze der Welt“) veranlaßte Giorgio de Chirico, in Klinger „den modernen Künstler schlechthin“ zu erblicken.“ (Claude Keitsch)

 

Lee Miller – Die Nachkriegszeit

Beinahe zehn Jahre lang wurde Miller vom MI 5 überwacht. Der Britische Geheimdienst wurde zunächst wegen Roland Penrose, Millers zweiten Ehemann, auf sie aufmerksam. Penrose wurde verdächtigt mit dem stalinistischen Regime Russlands zu sympathisieren. Auch die Freundschaft Millers zu Wilfred McCartney, einem ehemaligen Mitglied der KPD, der wegen Spionage für Russland jahrelang inhaftiert war, machte Miller dem MI 5 verdächtig. In den Berichten des Geheimdienstes wird Miller als „violently anti-Nazi“ beschrieben.

Chris Andrew, Geschichtswissenschaftler beim MI 5 schreibt über Lee Miller: „What is not sufficiently realises is that her career was absolutely unique in British History. There had never been anybody like her before, there’s no reason to think there will be anyone like her again.“

Während Miller die Zeit als Kriegsberichterstatterin scheinbar schadlos überstand, begann das Leiden in den Friedenszeiten. Nach Ende des Krieges reiste sie noch eine Weile durch Europa, um die Folgen des Krieges zu dokumentieren.

Die Trennung von Sherman, ihrem Partner während der Kriegsreportagezeit, verstärkte ihre Lethargie. Erst als Sherman ihr telegrafiert, „Go home“, kehrt sie endlich zurück zu Penrose.

1947 wurde sie schwanger und heiratete Penrose. Im September 1947 wird ihr Sohn Antony geboren. Im April schreibt sie einen Artikel über die Geburt für die Vogue. Gelgentlich macht sie noch Modeaufnahmen. Sie beginnt über Kunst zu schreiben und macht Porträtaufnahmen, überweigend von Künstlern. Eine wirkliche Neuorientierung gelang ihr jedoch nicht.

Lee Miller und ihr Sohn Anthony

Ihr Arzt diagnostizierte [in offener Verkennung des posttraumatischen Zustandes, unter dem Miller mit ziemlicher Sicherheit litt]: „Ihnen fehlt nichts. Aber wir können die Welt nicht permanent im Kriegszustand halten, damit Ihr Leben aufregend bleibt.“

Miller leidet unter Depressionen, vermutlich aufgrund der nicht erkannten posttraumatischen Belastungsstörungen, die sie mit Alkohol „behandelt“. Die Arbeit fällt ihr schwerer, es wird immer unmöglicher, Termine einzuhalten, so dass Penrose Whiters schließlich überredet, Lee keine Aufträge mehr zukommen zu lassen.

Millers Depression verstärkt sich, als Penrose sich ernsthaft in eine andere Frau verliebt. Erst ein längerer Aufenthalt Lees in Amerika bringt Entspannung. Während der Arbeit von Roland Penrose an einer Picasso Biografie, begleitet Miller ihren Mann bei der Recherche und bei Besuchen bei Picasso, dabei entstehen eindrucksvolle Fotos. Dennoch ist ihre Foto-Karriere weitesgehend Vergangenheit. Nach und nach gelingt es ihr,  den Alkohol in den Griff zu bekommen. Die fehlenden Fotoaufträge kompensiert sie durch eine neue Leidenschaft, das Kochen surrealistisch inspirierter Speisen.

1977 stirbt Lee Miller auf Farley Farm an Magenkrebs.

Lee Miller – Kriegsreporterin

Wie sehr sich in dieser Beziehung ihr eigenes Werk von denen anderer unterschied, konnte Lee Miller nicht nur in ihrer Zeit als Kriegsreporterin, die Akkreditierung erhielt sie 1942, beweisen. Die Herausgeberin der Vogue, Audrey Withers unterstützte Lee bei ihrem Vorhaben, den Krieg und seine Folgen zu dokumentieren.

Als Kriegsberichterstatterin zeichnete sich Lee Miller sowohl durch ihre ungewöhnliche Bildgestaltung als auch durch ihre unsentimentalen Kommentare zu den menschlichen Schicksalen aus. Immer wieder hat Lee Miller die bizarren Seiten des Krieges wahrgenommen und beschrieben: „Wir fuhren an Jeeps vorbei, die Müll transportierten und auf deren Kühlerhauben stapelweise Verwundete lagen, an Munitionslastern mit zynischen Aufschriften wie „Sudden Death“, „Amen“, oder „You’ve had it“.

Trotz schlechter Bedingungen (mangelhafte technische Ausrüstung, kein Belichtungsmesser, kein automatisches Rückspulen, nur 11 Fotos pro Film), lieferte Lee Miller stets ästhetisch komponierte Bilder, denen man ihre surrealistische Ausbildung anmerkte.

In jeden Film steckt ein Funken Poesie, der sich oft allein der Bewegung verdankt. Das kann die Art sein, wie sich ein Arm bewegt, ein Schatten fällt, oder etwas Staub zu Boden sinkt.“

Auch während des Krieges galt Millers Interesse hauptsächlich den Frauen (und ihren Kindern). So fotografierte sie eine Serie über Frauen in Männerberufen, dokumentierte die Lage der Frauen im von den Nazis besetzten Europa. Richard Calvocoressi bezeichnet Millers Porträt von Eva Braun als „klassische Darstellung der Banalität des Bösen im Reich Hitlers.“

Eines der beeindruckendsten Fotos von Miller aus der Kriegszeit, ist für mich, das der kahl geschorenen weiblichen Kollaborateure. Vielleicht weil es mich an eine Szene aus Hiroshima mon amour von Marguerite Duras erinnert. Miller selbst schrieb zu diesem Foto an Whiters: „In Rennes habe ich heute die Bestrafung weiblicher französischer Kollaborateure miterlebt – man hatte den Mädchen den Kopf geschoren.“

Mit einer Mauer aus Hass und Verachtung um mich herum fuhr ich durch Deutschland“, schrieb Miller in einer 1945 in der Vogue veröffentlichten Reportage.

Die Geschehnisse des Krieges als einzige (oder wenigstens als Erste) dokumentieren zu können, euphorisierte Miller und ließ sie ihre Angst eine Zeitlang vergessen. Häufig war Miller die einzige Kriegskorrespondentin. So z.B. bei der Belagerung von St. Malo, als zum ersten Mal Napalm eingesetzt wurde.

Im April 1945 schrieb sie an Whiters:

Ich mache in der Regel keine Aufnahmen (Kriegslager, Konzentrationslager) von diesen Dingen, da ich weiß, dass sie sie sowieso nicht veröffentlichen. Denken Sie aber deshalb nicht, dass es sie nicht in jeder Stadt und in jedem Gebiet massenhaft gäbe. Jede Gemeinde verfügt über ihre großen Konzentrationslager, einige davon in Form von Folter- und Vernichtungslagern.“

Lee Miller war eine der Ersten, die Dachau, nach Einnahme durch die 4. US -Division betrat.

Wir näherten uns dem Lager in einer kleinen Truppe mit Jeeps. Der Weg führte durch ein Waldstück, und das Erste, was uns auffiel, war, dass es keine Vögel oder Tiere gab. Es war ein schlechtes Zeichen, und die Jungs wurden nervös. Dann kamen wir an einigen toten SS-Offizieren vorbei. Man hatte sie wohl zu Tode geprügelt oder erdrosselt. Es war nicht normal, Menschen auf diese Weise zu töten – die Jungs reagierten unruhig. Dann erreichten wir den Drahtzaun. Dahinter waren unzählige Menschen in gestreifter Sträflingskleidung, die uns schweigend anstarrten. Wir konnten nicht verstehen, warum sie nicht reagierten, uns nicht entgegenkamen, waren uns aber sicher, dass dies das Lager sein musste, und suchten nach dem Eingang. Einer unserer Kumpel, der Wache stand, ließ uns hinein. Als die Gefangenen drinnen begriffen, dass wir Amerikaner waren, umringten sie unseren Jeep, hoben unsere Jungs auf die Schultern und rannten mit ihnen um das Lager herum. Sie waren so schwach und erschöpft, dass manche unter der Anstrengung wie tot umfielen, aber andere drängten hinterher und lösten sie ab. Erst nach lautstarken Ermahnungen und Drohungen kehrte wieder Ordnung ein.“ (Das Haus der Surrealisten. Der Freundeskreis um Lee Miller und Roland Penrose. Antony Penrose. Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH, Berlin 2002.)

You better believe it“, schrieb Miller an Whiters, als sie die Fotos aus den befreiten Konzentrationslagern schickte.

Eines der berühmtesten Fotos von Lee Miller hat ihr Partner Sherman gemacht, es handelt sich um das Foto von Lee in Hitlers Badewanne. Miller selbst schrieb dazu an Audrey Winters: „I was living in Hitler’s private apartment when his death was announced, midnight of Mayday … Well, alright, he was dead. He’d never really been alive to me until today. He’d been an evil-machine-monster all these years, until I visited the places he made famous, talked to people who knew him, dug into backstairs gossip and ate and slept in his house. He became less fabulous and therefore more terrible, along with a little evidence of his having some almost human habits; like an ape who embarrasses and humbles you with his gestures, mirroring yourself in caricature. “There, but for the Grace of God, walks I.”

Was Lee Millers Kriegsfotografien auszeichnet, ist vermutlich nicht so sehr eine moralische Frage, wahrscheinlich hat Miller zuerst das Bild, die Komposition gesehen, und sich erst dann, anschliessend, Gedanken über das, was sie gesehen und festgehalten hatte, gemacht.

Lee Miller I

Über Lee Miller, eine der außergewöhnlichsten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts, habe ich vor geraumer Zeit, einen viel zu kurzen Artikel geschrieben.

Obwohl Miller mittlerweile zu den wichtigsten Fotografinnen gezählt wird, hat ihre “Wiederentdeckung” erst kürzlich stattgefunden. Lange Zeit war sie fast vollkommen in Vergessenheit geraten.

Möglicherweise auch deshalb, weil sie lange als Modell und Modefotografin tätig war. Vielleicht aber auch, weil sie selbst kein großes Interesse daran hatte, sich um die Präsentation ihrer Werke zu kümmern. Ihre einzige Einzelausstellung hatte Miller 1933.

Richard Calvocoressi äußert einen dritten Verdacht als möglichen Grund für den geringen Bekanntheitsgrad Lee Millers als Fotografin.

Der dritte und mögicherweise wichtigste Grund für das mangelnde Interesse, das ihr als Fotografin entgegengebracht wurde, dürfte die Faszination sein, die von ihrer unkonventionellen Persönlichkeit ausging. Ihre legendäre Schönheit, eindrucksvoll festgehalten in Aufnahmen von Streichen, Hoyningen, Huene und, am sinnlichsten, von Man Ray, der Umstand, dass sie im Kindesalter von dem Sohn eines Freundes der Familie [an anderer Stelle ist von einem Cousin oder Onkel die Rede] missbraucht wurde, eine eigentümlich innige Beziehung zu ihrem Vater, zahlreiche Liebesaffären und ihre von Alkohol und Depression gekennzeichneten mittleren Lebensjahre – all das nahm die ganze Aufmerksamkeit der Medien in Anspruch und verhinderte eine echte Wertschätzung ihrer Künstlerischen Gaben“ (R. Calvocoressi: Lee Miller| Begegnungen, Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2002).

Lee Miller ist schon früh mit dem Medium der Fotografie vertraut gewesen, ihr Vater war ein begeisterter Amateurfotograf, der besonders seine schöne Tochter sehr gerne und häufig fotografierte. Im Alter von sieben Jahren wurde Lee vergewaltigt. Neben den seelischen Qualen infizierte sich Lee mit einer Geschlechtskrankheit. Einzelheiten wurden totgeschwiegen. Allerdings zogen die Eltern einen Kinderpsychologen hinzu.

Lees erster Verlobter verunglückte tödlich, drei Jahre später verunglückte ihr nächster Geliebter.

1926 wurde sie in New York von Condé Nast entdeckt und erhielt ihre ersten Aufträge als Model für die Vogue. Die Karriere als Fotomodell endete als eine Werbekampagne für Damenbinden mit Lees Bild erschien. In der prüden Zeit der 30er Jahre konnte ein derartiger Vorfall den Ruf als Model zerstören.

Lee hatte allerdings die Fotografie längst für sich selbst entdeckt und wechselte die Seiten, statt sich fotografieren zu lassen, ging sie dazu über, selbst zu fotografieren.

Was das Werk eines Menschen in seiner Qualität von dem anderer unterscheidet, ist seine Aufrichtigkeit.“ (Lee Miller, zitiert nach Ruth Seinfel, „Jeder kann sich darstellen. New York Evening Post. 24.10. 1932).

Kurze Geschichte der surrealistischen Bewegung

Gegen Ende der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts war der Surrealismus unter der strengen Führung Bretons zu einer bedeutenden kulturellen Bewegung geworden. Für den Zusammenhalt der Gruppe, deren Mitglieder teilweise sehr unterschiedliche Arbeiten herstellten, waren Spiele und Erfahrungen, die man in der Gruppe machte, von großer Bedeutung. Diese Erlebnisse und Zusammenkünfte bildeten die Basis, die den eigentlichen Zusammenhalt schuf.

Die Surrealisten hielten Traumsitzungen und Séancen ab, sie liebten Anagramme und spielten immer wieder Cadavre exquis, sowie Frage und Antwort Spiele, bei denen Fragen beantwortet werden mussten, die gar nicht gestellt worden waren.

In den 1930er Jahren erhielt die Bewegung auch zunehmend internationale Aufmerksamkeit. Ausstellungen in Brüssel, Kopenhagen, New York und Prag machten den Surrealismus außerhalb von Frankreich bekannt.

1927 waren Breton und einige andere Mitglieder der surrealistischen Bewegung der Kommunistische Partei Frankreichs beigetreten, aus der sie 1933 ausgeschlossen wurden. Die Revolution, die den Surrealisten vorschwebte, ging den Kommunisten zu weit.

Künstler zu sein, genügte Breton und seinen Anhängern nicht, sie hatten den Anspruch mit dem Surrealismus eine Revolution zu befördern, die die ganze Welt umgestalten und das Leben grundlegend ändern sollte.

Breton schrieb dazu:

Leute, die sich als Künstler bezeichnen, findet man sogar im Außenministerium, oder der Begriff taucht auf einem Plakat auf, das eine Tournee durch die Provinz ankündigt, dieses Wort bedeutet nichts: ‚Sie sind Künstler!‘ Was auch immer ich tue, um diese grobe Einordnung zurückzuweisen – von dem einem erwartet das Publikum Märchen, von einem anderen Verse in Alexandrinern, wieder von einem anderen Bilder mit fliegenden Vögeln – und wenngleich ich Zweifel hege, ob es mir gelingt, die so schmeichelhaften Erwartungen, die sich mit meinem Namen verbinden, zu durchkreuzen, bin ich Objekt einer besonderen Toleranz, deren Grenzen ich ziemlich genau kenne und gegen die ich mich immer auflehnen werde.“ (André Breton, in Nadeau, 1964, a.a.O.)

Die „revolutionäre“ Haltung, die sich kommunistischen Direktiven ebenso wenig unterordnen konnte, wie Konventionen oder dem Zeitgeist, war nur konsequent, wenn man ernst nimmt, dass es um eine Wahrnehmung jenseits von gesellschaftlicher Kontrolle und Konvention gehen sollte.

Dabei folgten selbst die Aufrufe zur Revolution der Prämisse des automatischen Schreibens.

Zitiert sei hier ein Appell vom 02. April 1925:

1. In jeder surrealistischen oder revolutionären Geisteshaltung dominiert der Zustand der Raserei; 2. Sie glauben, dass vor allem der Weg der Raserei sie zur surrealistischen Erleuchtung führt.“ (A.Breton, La Révolution surréaliste, Nr. 3)

Im Grunde wendete sich der Surrealismus gegen die gesamte Kultur, die laut Freud auf der Unterdrückung der Triebe aufgebaut ist.

Der Ausbruch des zweiten Weltkriegs beendet die Blüte des Surrealismus.Viele Surrealisten emigrieren in die USA. So auch Breton, der zwar versuchte auch in den USA ein neues Zentrum des Surrealismus zu errichten, sich aber weigerte, Englisch zu lernen, aus Sorge um seine Kreativität. 1946 kehrte Breton nach Paris zurück.

 

Mit dem Tod Bretons 1966, verliert der Surrealismus sein Zentrum.

Ob der Surrealismus einen Anfangs- und einen Endpunkt hat, kommt nicht zuletzt auf die Perspektive an. Maurice Nadeau bemerkt dazu:

Die surrealistische Gesinnung, das heißt die surrealistische Verhaltensweise kommt nämlich zu allen Zeiten vor, sofern man sie als die Bereitschaft auffasst, das wirkliche tiefer zu ergründen.“

Dieser eher generellen Definition von Surrealismus stellt Nadeau eine historische abgegrenzte Periode gegenüber:

Sie entstand ungefähr gegen Ende des ersten und erlosch mit dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs. Insofern sie getragen wurde durch Menschen, die ihre Weltanschauung in Dichtung, Malerei, Essay oder durch ihre eigentümliche Lebensweise zum Ausdruck brachten, und als Aufeinanderfolge von Geschehnissen und Taten, gehört jene Bewegung der Geschichte an, stellt sie eine zeitlich abgeschlossene Reihe von Lebenserscheinungen dar.“ (Maurice Nadeau, Geschichte des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg, 1965).

Ursprünge des Surrealismus, Vorbilder und Entwicklung in der Malerei

Erst 1925 befasste sich Breton damit, welche Rolle der Surrealismus in der bildenden Kunst spielen könnte. Gemeinsam mit Robert Desnos schrieb er als Vorwort für den Katalog einer Ausstellung den Aufsatz Die surrealistische Malerei.

Ende 1926 wurde die Galerie surréaliste eröffnet.

1928 schreibt Breton in seinem Essay: Der Surrealismus und die Malerei:

Das Auge lebt im Urzustand. Die Wunder der Erde, in dreißig Meter Höhe, die Wunder des Meeres in dreißig Meter Tiefe haben fast nur das wilde ursprüngliche Auge zum Zeugen, das alles, was Farbe ist, auf den Regenbogen zurückführt […] Das Verlangen, die Bilder des Gesichtssinnes zu fixieren, ob sie vor ihrer Fixierung wirklich da waren oder nicht, hat sich zu jeder Zeit offenbart und hat zur Schaffung einer wirklichen Sprache geführt, die mir nicht künstlicher zu sein scheint als die gewöhnliche.“ (A. Breton, Der Surrealismus und die Malerei, Berlin, 1967)

Das Primat des automatischen Schreibens verursachte Schwierigkeiten auf dem malerischen Gebiet. André Masson gelangen zwar einige automatische Zeichnungen, indem er zunächst ohne Nachzudenken auf ein Blatt „kritzelte“, sobald aber arbeits- und materialaufwendigere Techniken ins Spiel kamen, versagte diese Technik, so dass die Maler neue Wege finden mussten, das Bewusstsein und die Kontrolle während der Arbeit außer Kraft zu setzen.

Derartige Möglichkeiten bestanden zum Beispiel in Gemeinschaftsproduktionen, dem bereits erwähnten Spiel mit dem Namen Köstlicher Leichnam, das seinen Titel aus dem ersten Ergebnis des Spiels erhalten hat: „Der köstliche Leichnam wird den jungen Wein trinken.“ Wobei hier eine literarische sowie eine zeichnerische Umsetzung möglich war. Die Resultate dieses Spieles wurden regelmäßig in der Zeitschrift „La Révolution surréaliste“ veröffentlicht.

Eine weitere Möglichkeit stellte die Collage dar, die durch Max Ernst Einzug in den Surrealismus hielt.

Breton: „Ich erinnere mich gut an die Gelegenheit als Tzara, Aragon, Soupault und ich die Collagen von Max Ernst zum erstenmal entdeckten. Wir waren gerade alle in Picabias Haus, als sie von Köln (1921) ankamen. Sie bewegten uns auf eine Weise, wie wir es nie wieder erlebten. Das äußerste Objekt war herausgerückt aus seiner gewohnten Umgebung, seine einzelnen Teile hatten sich aus dem gegenständlichen Zusammenhang in einer Weise befreit, daß sie völlig neue Beziehungen mit anderen Elementen eingehen konnten.“ (Hans Richter, Dada Kunst und Antikunst, Köln, 1973)

Für Ernst selbst war die Collage eine Möglichkeit, dem Irrationalen Zugang zu seiner Kunst zu verschaffen.

Collagetechnik ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene – und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt.“ (Max Ernst, Biographische Notizen, Ausstellungskatalog Walraf-Richartz-Museum Köln, und Kunsthaus Zürich, 1963)

Als Dalí im Frühjahr 1929 nach Paris kam, war das Interesse der surrealistischen Maler am Automatismus fast vollkommen erlahmt. An seine Stelle trat mehr und mehr die Beschäftigung mit dem Traum. In der Traummalerei wurde das Bild bewusst konstruiert. Der Malstil war realistisch.

Ein Vorbild des Surrealismus war zweifellos De Chirico, der Begründer der pittura metafisica (1888 – 1978), der sich selbst nie der surrealistischen Bewegung anschloss. Anhand seiner Bilder konnten die Surrealisten studieren, wie man einen Traum malen könnte.

Seine Bilder muten wie Traumszenen an, verfremden das Bekannte, indem seltsame Objekte in einer scheinbar bekannten Kulisse platziert werden.

Surrealismus, die literarischen Ursprünge

Manchmal, wenn mich eine Sache besonders interessiert oder begeistert, reagiere ich vorschnell, schreibe zum Beispiel einen Artikel über die Frauen im Surrealismus, obwohl ich nur notdürftig erklären kann, was Surrealismus eigentlich ist.

Nicht immer, aber manchmal, fällt mir dann im Nachhinein auf, wie unüberlegt und vorschnell das war und ich recherchiere. Immer noch am liebsten in den guten alten dicken schweren und unhandlichen Büchern, statt im Internet, weil ich da immerabgelenkt bin.

Für diejenigen, die es interessiert, hier die Früchte dieser Nachbearbeitung:

Den Begriff „Surrealismus“ prägte der französische Schriftsteller Guillaume Apollinaire, als er 1917 zu Jeans Cocteaus Ballett Parade, zu dem Erik Satie die Musik geschrieben hatte, und Pablo Picasso das Bühnenbild entwarf, schrieb, diese Aufführung enthülle eine Wahrheit hinter der Wahrheit, und stelle eine Art Sur-Realismus dar.

Sein eigenes Stück Les Maelles de Trisésias untertitelte Apollinaire als „surrealistisches Drama“.

Wenig später übernahmen Andre Breton und Philippe Soupault den Begriff für das von ihnen entwickelte Verfahren.

Breton war im ersten Weltkrieg Assistent in einer psychiatrischen Lazarettstation. Dort lernte er die psychoanalytischen Untersuchungsmethoden Freuds kennen und konnte beobachten, wie man durch Hypnose versuchte, die Traumata der Patienten zu lindern. Für Breton waren diese Techniken mehr als therapeutische Behandlungsversuche, er sah hier einen Weg einer unerschlossenen, den gesellschaftlichen Konventionen nicht unterworfenen Realität auf die Spur zu kommen.

Im ersten Manifest des Surrealismus schrieb Breton 1924: „Zu Ehren Apollinaires bezeichnen Soupault und ich diese neue Form des reinen Ausdrucks mit dem Namen SURREALISMUS und beeilen uns, was wir an Erkenntnissen gewonnen haben, unseren Freunden zugänglich zu machen.“ (André Breton, Erstes Manifest des Surrealismus, 1924)

Ursprünglich war der Surrealismus ein rein literarisches Unternehmen. Vorbild war Lautréamont, von dem insbesondere folgendes Zitat zum geflügelten Wort innerhalb surrealistischer Kreise wurde:

wie die Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch” (Lautréamont, die Gesänge des Maldoror, 6. Gesang)

Die Zwänge der Logik, der Kontrolle, des Folgerichtigen sind hier außer Kraft gesetzt. Die Vorherrschaft des Intellektes über das Unbewusste gilt nicht länger. Gleichzeitig kann der Seziertisch dahingehend verstanden werden, dass die Dinge sehr genau untersucht werden, man sich nicht mit ihrer Oberfläche zufrieden gibt.

Breton erklärte das automatische Schreiben zur wichtigsten surrealistischen Praxis, zum Kern des Surrealismus:

SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.“ (Breton, erstes surrealistisches Manifest, 1924)

Obwohl der Surrealismus seine Wurzeln im Dadaismus hat, versuchten sich die Surrealisten bald von DADA abzugrenzen. Dada war für sie lediglich Protest, Nihilismus, der Surrealismus hingegen wollte mehr: die Erschaffung einer freien, revolutionären und unabhängigen Kunst. Man will nicht nur hinter die Grenzen der Realität gelangen, sondern gleichzeitig die Gesellschaft verändern.

1919 entstand das erste Werk, das auf der automatischen Schreibweise basierte; Die magnetischen Felder von André Breton und Phillipe Soupault. Breton schreibt dazu:

Es handelt sich um die erste surrealistische (und keineswegs dadaistische) Arbeit, ist sie doch das Resultat der ersten systematischen Anwendung der Ecriture automatique.“ (André Breton, Entretiens 1913-1952 avec André Parinand, Paris, 1952).

Und Soupault ergänzt:

Bei unseren Studien haben wir festgestellt, dass der Geist, wenn er sich vom Druck der Kritik und der schulischen Gewohnheiten befreit hat, keine logischen Sätze, sondern Bilder hervorbringt.“ (Philippe Soupault, profils perdus, Paris, 1963).

1922 erschein der Gedichtband Les Malheurs des immortels (Die Unglücksfälle der Unsterblichen) von Paul Èlurad und Max Ernst, mit Collagen von Max Ernst. Das automatische Schreiben der magnetischen Felder hatte sich hier zu einem Dialog zwischen Text und Bild erweitert. Die Zusammenarbeit der Künstler stand wiederum unter einem Motto, das Lautréamont beigesteuert hatte: „Die Poesie muss von allen, nicht von einem gemacht werden.“

Der Weg von der literarischen zur malerischen Bewegung schien geebnet.

Collage von Max Ernst für den Gedichtband Die Unglücksfälle der Unsterblichen

Dora Maar

Theodora Markovitch am am 22. November 1907 in Paris zur Welt, zog aber drei Jahre später nach Buenos Aires und kehrte erst 1926 wieder nach Paris zurück. Dort legte sie sich ihren Künstlernamen Dora Maar zu und betrieb mit Pierre Kéfer ein gemeinsames Studio. Man Ray hatte sie zunächst als Assistentin abgelehnt. Das Doppelporträt mit Huteffekt, von 1930, zeigt schon Maars Lust am Experimentieren, ihre Freude Negative zu zerschneiden und neu zu kopieren.

Bereits in dieser Zeit engagierte sie sich stark für die politische Linke, 1934 unterzeichnete sie den Aufruf zum Generalstrei  gegen den Vormarsch des Faschismus. Ihre Reisebilder aus Barcelona oder London sind von ihrem sozialen Engagement gekennzeichnet.

1934 eröffnete Dora Maar ein eigenes Studio in der Rue d’Astorg 29. 1935 schliesst sich Maar für kurze Zeit der Contre-Attaque Bewegung an, zu deren Begründern auch Claude Cahun und Paul Eluard gehören. 1936 gehört Dora Maar bereits zum festen Kreis der Surrealisten. Ihr Bildnis von Ubu avancierte zur berühmten Ikone des Surrealismus.

 

1936 lernte Dora Maar Picasso kennen und wurde seine Geliebte. Aus der eigenständigen Künsterlin wurde eine Muse. Zwar war sie ihrem Geliebten Picasso auf dem Gebiet der Fotografie überlegen, aber nach Fertigstellung einer Fotoserie von der Entstehung der Guernica, drängte Picasso Maar, die Fotografie aufzugeben und zu malen.

 

Dora Maar wurde von der Begegnung mit Picasso regelrecht absorbiert. So schrieb der Kunstsammler Heinz Berggruen: „So wie ich sie kannte – und ich kannte sie recht gut seit den frühen fünfziger Jahren […] – war sie in allen Höhen und tiefen ihres von Tragik getränkten Lebens ein Teil des Planeten Picasso.“

Als Dora Maar am 16. Juli 1997 stirbt, ist ihr eigenes Talent endgültig hinter dem „Planeten Picasso“ verschwunden.