VII Unverständnis und Form

Bei allem Unverstandenen, bei allem Recht auf Alogik dessen sich der Traum bedient; „die Resonanz braucht schließlich Formen“. Und wenn es jemand ist, der „in Kleidern geschlafen“ hat.

Gedichte erscheinen bei Rinck nicht zuletzt als eine Notwendigkeit, damit der „taube Schmerz, mit dem das Nichtgedachte innerlich wird“, vermieden, abgewendet werden kann. Statt sich zu krümmen „unter erhöhtem Deutungsdruck“, lässt Rinck die Assistenten des Unbewussten übernehmen:

„Nehmt mich fort und schreibt das auf. Verwirklicht mich an Stellen, die ich nicht betreten kann.“

Immer wieder gelingt das mittels Assoziationsketten und ironischer Brechung. Und immer wieder blitzt beim Lesen die Erkenntnis, das Eingeständnis auf, dass ich mir die Freiheit, die ich habe, nicht erlaube. Weder hier noch dort. Und fast immer ohne wenigstens zu fragen warum.

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VI Pathos und Idyll

Oder das Pathos. Und wie man es bricht, mit Witz. Das ist Risiko, und alles andere als zurückrudern, vielmehr die Möglichkeit eines Aufbruchs in tatsächlich zuvor noch nicht betretene Räume.

Diese Räume findet und erschließt Monika Rinck immer wieder gerne beim Betrachten und Beschreiben von Gemälden. Zum Beispiel von Peter Duka: Hier sind alle schlank und schön und im Garten Eden. Nicht wie bei Botero, dick und farbensatt und gemalt mit der Behauptung, das eigentliche Malen sei eine Zärtlichkeit.

Stattdessen Quallen und Fische und Inspector Louis Marais.

Gleichzeitig greift Rinck auf ganz alte Quellen zurück. So beschäftigt sie z.B. der Ursprung des Idylls bei Vergil nachhaltig: „Ist es nicht eigenartig, dass es im ersten Idyll, das später zum Begriff für ein friedliches bis kitschiges Gartenleben wird, eben um die Erfahrung von Flucht, die Indolenz des Glücklichen gegenüber dem Unglücklichen, den Skandal der Gleichzeitigkeit und, ganz am Ende, um Gastfreundschaft und die Verzögerung der flucht um eine einzige Nacht geht?“

Ein scheues Bedürfnis nach Trost“, ein Essay, in dem sich Rinck mit Michael Donhausers „Variationen in Prosa“ beschäftigt, kann durchaus auch als Konsequenz des zweifelhaften Idylls gelesen werden. Und sie hat Recht, wenn sie schreibt, dass es allen offensichtlichen Schwierigkeiten zum Trotz, doch auch anders gehen müsste. Es müsste Trost zu finden sein in Gedichten, ein Trost, der nicht „leer und angegriffen herumsteht und immerzu gegen den Vorwurf seiner Verlogenheit oder Unzeitlichkeit angehen muss […] Das muss auch anders gehen.“ Schreibt Rinck. Und natürlich wissen wir alle: das geht auch anders. Nur wie, das weiß zumindest ich nicht so genau.

Und übrigens sind die Texte im Lesebuch recht häufig (vermutlich auf die eine oder andere Weise sogar immer) Auseinandersetzungen mit Büchern, Texten, Gemälden, also eine Art Dialog und damit die Einlösung des anfangs benannten Vorhabens, dem anderen näher zu kommen, Verbindungen zu schaffen.

Und dann benennt Monika Rinck auch noch folgende tröstende Funktionsweise von Sprache: „Diese Sprache begünstigt eine gewisse Durchlässigkeit, die doppeldeutig ist. Sie legt etwas frei und geht dennoch weiter, als ermöglichte sie Tränen und ließe sie in diesem (einem anderen, aber gleichzeitigen Moment) wieder versiegen. Eine Ermöglichung, die eine Verhinderung, oder sagen wir besser: Linderung ist. Als brächte der Trost den Schmerz erst wieder hervor, und mit ihm die Mittel hindurchzugehen.“

Schlafen V

Nur Sprache gibt es nicht. Aber andere Räume, andere Elemente in denen sich das Denken entfalten kann. So behandelt Monika Rinck das Phänomen des Schlafens von der Schlaflosigkeit über den luziden Traum zur Hypnose. Beim Schlaf muss ich unwillkürlich an Anne Carsons Essay in „Decreation“ denken, in dem sie den „Lesarten des Schlafs“ nachgeht. Inspiriert von Virginia Woolfs „Zum Leuchtturm“ stellt Carson die Frage, was der Schlaf sieht, wenn er uns ansieht, und verbindet (ganz im Sinne Rincks) Schwimmen und Schlafen: „Wie Schwimmer, die ihre Bahnen durch einen nächtlichen See ziehen, kreuzen Fakten aus der Tagwelt diese Phänome […] die Nacht taucht weiter, in ihre eigenen Ereignisse vertieft.“ Das sind Beschreibungen davon, wie Woolf in „Zum Leuchtturm“ von der Schlafseite her die Geschichte der Familie Ramsay erzählt, und ihren Lesern laut Carson einen besonderen Blick erlaubt: „Nämlich die Leere in den Dingen, ehe wir unseren Nutzen aus ihnen ziehen, einen Blick auf die Wirklichkeit vor ihren Wirkungen.“ Das ist vielleicht auch, was Rinck meint, wenn sie von der „Nähe des Denkens zu seinem Gegenstand“ schreibt. „Wir erleben im Schlaf eine Diversifizierung der Logik, in zwingende Argumentationen, deren Schlüssigkeit durch ihre Unverständlichkeit nicht geschmälert, ja, überhaupt nicht angetastet wird. Und ich fragte mich immer: Wenn man all das kennt und Nacht für Nacht diese Labore der Alogik und Algen betritt – ist dann noch ein einziges Gedicht unverständlich?“

IV – Schwimmen

In den folgenden Gedichten werden die Gedanken noch einmal aufgenommen, fortgeführt,  in anderen Räumen entfaltet.

Und übrigens ist das alles noch „Ansprache“, bevor die Texte im nächsten Teil ins „Schwimmen“ geraten, also ein neues Element erobern oder erproben, was vielleicht dasselbe ist.

Der „[…]Brutalität der Konzentration auf eines, auf nur eine Sache! Sich ganz in einen einzigen Dienst zu stellen“, stellt Rinck folgenden Vorschlag an die Seite: „Die eigenen Fähigkeiten weniger als Fleiß, sondern vielmehr als Freiheit unter Beweis stellen – darum geht es doch.“ Spätestens hier steige auch ich ins Wasser, schwimme mit. Etwas, das gerade meine Arbeit extrem verzögert bis verhindert ist das Bewusstsein, dass alles mit allem zusammenhängt. Schön eigentlich, einladend und inspirierend grenzüberschreitend. Andererseits verursacht diese Erkenntnis einen enormen Druck, Erwartungs- und Leistungsdruck. Denn was ich habe, sind Teile, vereinzelte Splitter, und das Bewusstsein, dass sie zu einem größeren Ganzen gehören, dass sie ein Bild ergeben, wenn es mir nur gelingt, die jeweils zueinander passenden Teile zu verbinden. Dann würde aus dem Puzzle ein Bild. Aber immer fehlt ein Verbindungsstück, oder ich bin mir nicht sicher, ob die Teile wirklich ineinander greifen, oder ich bin mir im Gegenteil sehr sicher, dass sie nicht ineinander greifen, will es aber mit aller Macht, die sich sogleich in Ohnmacht verwandelt und mich unglaublich unkreativ und müde macht. Und das ist nicht weniger als das Gegenteil der Erlaubnis, sich „in einem sehr geweiteten Spielraum der Poesie bewegen zu dürfen, dieser Erlaubnis, die H.C. Artmann in seiner 8-Punkte- Proklamation des poetischen Actes, erteilt.

Es geht um Bewegungsmöglichkeiten. Diejenigen, die das Wasser dem Körper ermöglicht. Und die Poesie den Gedanken.

„Es ist ja nicht so, dass man dieses oder jenes heute einfach nicht mehr sagen dürfte, nur muss man sich eben klarmachen, dass man damit heute etwas anderes sagt als vor zwanzig Jahren. Man braucht Zeit, darüber nachzudenken.“ Nimmt man sich diese Zeit nicht, schwimmt man fast willenlos mit in den Strömungen von ja und nein, während all die wichtigen, schillernden Zwischentöne sang – und klanglos, unbemerkt, untergehen.

Und Rincks Denken folgt tatsächlich den Schwimmbewegungen, mal lassen sich die Gedanken treiben, schweifen ab, um dann in einer Kehrtwende wieder zurück zum Ziel zu kommen, einem Ziel, das sie nie aus den Augen verliert, das sie vielmehr immer weiträumiger umkreist, um es auf diese Art besser in den Blick zu bekommen.

Zum Beispiel das: den „Weißraum, der das Gedicht umgibt, lehrt uns zunächst, dass es sehr vieles gibt, das im Ungefähren bleibt, das wir nicht erfahren. Dies versinnbildlicht der leere Raum. Er ist größer als das Gedicht und eröffnet die Manege für all das, was dort nicht zu lesen ist.“ Solche Sätze machen mir noch einmal deutlich, wie viel mehr Freiheit Begreifen braucht als Verstehen. Also muss man vielleicht das Verstehen (die Muster des üblichen Verstehens) vergessen, damit man ein Gedicht begreifen kann? Damit es mir als Leserin nicht so ergeht wie Kafka mit dem Schwimmen? Rinck zitiert Kafka, der gesteht: „Ich kann schwimmen wie die anderen, nur habe ich ein besseres Gedächtnis als die anderen, ich habe das einstigen Nicht-schwimmen-können nicht vergessen. Da ich es aber nicht vergessen habe, hilft mir das Schwimmen-können nichts und ich kann doch nicht schwimmen.“

Zum Abschluss des Schwimmens noch einmal Rinck: „[…] anders als die Schwimmfibel, die leider nicht zusammen mit dem türkisblauen Schwimmerbecken geliefert wird, bringt das Gedicht die Sprache, in der es sich befindet und aus der es gemacht ist, mit. Das Gedicht ist das Geschehen selbst, es ist ein Sprachgeschehen, das die Wirklichkeit verändert. Das bedeutet aber nicht, dass das Thema „nur“ Sprache ist „Nur“ Sprache gibt es gar nicht.“

 

Champagner Teil III

Der Ausgangspunkt der Verstrickung, (in Welt und Gedicht) ist immer wieder der Versuch, das Unmögliche, Ungedachte zu sagen, die Suche und Hoffnung nach „eine[r] neue[n] Konsequenz, die sowohl ein Bruch wie auch eine Verbindung ist? Sie kann jederzeit eintreten, sie kann ewig lang ausbleiben.“ (Rinck, S. 83)

Man weiß nicht, was kommen wird, wie man dorthin gelangt, und kann auch nicht zurück: „Wenn ich die Realisierung als Korrektur der Vorstellung betrachten will und die Vorstellung wiederum als Korrektur der Realisierung, brauche ich unbestimmte Räume, Räume ohne Hintergrund – und, man kann es nicht oft genug sagen – Zeit.“ Und einen produktiven Zweifel, einen, der mich mit Neugierde vorantreibt, und nicht aus Unsicherheit stehen bleiben lässt. Die Zeit nehme ich mir inzwischen, an der Umsetzung des zweiten Satzes arbeite ich mich seit Jahren ab.

Monika Rinck hingegen zitiert die Meisterin des Schweigens, Ilse Aichinger und die Erfinderin des gap gardenings als Begriff für Prosagedichte, Rosemarie Waldrop, um zu illustrieren, wie wir die behutsame Beredsamkeit des Schweigens kultivieren können. Und erschließt auf diese Weise die „poetische Feldarbeit“: „Doch wir sprechen nicht von Feldarbeit per se, wir sprechen von poetischer Feldarbeit. Prosa ließe sich, ein geeignetes Seitenformat vorausgesetzt, einmal rund um den Erdball schreiben. Die Dichtung bleibt in gewisser Weise am selben Ort, geht hinein und hinaus, türmt, stapelt, verdichtet, setzt sich Grenzen, bricht sie, kehrt zum einen zurück, singt, wiederholt, geht tiefer in den Gedanken, untergräbt den Gegenstand, baut ihn aus, flieht ihn, kommt wieder, aber tut das nicht auf linearem Weg. Die Versbewegung suggeriert ein Bleiben, eine Fixation, eine Sorge – was in keinem Fall als ein Lob der Immobiliät missvertanden werden soll. Es geht ja weiter. Das Fortschreiten ist tropisch.“ (S. 109)

Was mir besonders gefällt, oder ich sollte besser sagen, was mich in besonderem Maß anspricht, ist diese subtile, immer wieder hervorbrechende Gesellschaftskritik, die sich für das Warten und Reifen ausspricht, und gegen marktwirtschaftliches Nützlichkeitsdenken. Dazu passt natürlich hervorragend ein Beispiel poetischer Feldarbeit, die Monika Rinck anlässlich einiger Gemälde von Valentin Just durchgeführt hat.  Ein Gedicht zum „edlen, gut gemachten Lungern“ in seinen Bildern sozusagen.

Champagner Lesetagebuch II

Es ist viel schwieriger als ich gedacht habe, mich schreibend beim Lesen dieses Lesebuchs zu begleiten. Da die Gedanken klug aufeinander aufbauen, erschließen sie sich erst nach und nach, und wenn ich jetzt etwas zu Erinnerung, Gap Gardening und poetischen Feldern schreibe, ist es notwendig unvollständig, eben weil sich alles nach und nach entwickelt. Andererseits kann vielleicht auch das ein Reiz sein, sich selbst beim Lernen, beim Entwickeln von Zusammenhängen zuzusehen.

Vor der Umarmung liegt vielleicht die Ansprache. Und die Ansprache der Erinnerung beinhaltet immer diesen Satz: Es gibt kein Zurück. Dann kann man die Erinnerungen stapeln, um dieses Es gibt kein Zurück nicht zu sehen, aber natürlich funktioniert das nicht. Vielmehr mauert man sich ein damit in einer Vergangenheit in die man nicht zurück kann und vernagelt zudem die Fenster in eine mögliche Zukunft, die man so nicht sehen kann. Aber das sind Abschweifungen.

Kehren wir also zurück zur Poesie. Die alles ansprechen (und angreifen?) kann, aber mit jeder Ansprache zugleich Fragen aufwirft: Wer spricht? Wer darf überhaupt sprechen? Und als was oder wer spricht er dann? Und was / oder wer spricht mich eigentlich an, wenn mich ein Gedicht anspricht? Bin ich wirklich gemeint? Und wie finde ich das heraus?

Und ich als Leserin/Hörerin, lese ich, was dort steht, oder lese ich nur meine eigenen unreflektierten Gedanken in das Fremde hinein? Ist die innere Stimme wirklich die eigene Stimme?

Rinck schreibt dazu: „Aber Vorsehen: Auch Selbstzweifel sind ein sehr guter Trick, um nachhaltig um sich selbst zu kreisen und dabei kein Stück weiterzukommen – vielleicht weiter hinein, aber nicht näher an den anderen heran.“

 

Nicht nur nicht näher an den anderen heran, sondern als distanzloser (und zumeist auch gedankenloser oder wenigstens gedankenarmer) Angriff, gestaltet sich mitunter die „körperlos direkte Ansprache“ auf den sozialen Plattformen, die nicht selten Sprachgewalt in gewaltausübende Sprache verwandelt. Mit all dem setzt sich das Gedicht auseinander, kann es sich auseinandersetzen, mit all dem ist es konfrontiert, davon umgeben. Und weil es, wie kaum ein anderes Medium Sprache ernst nimmt und nutzt, statt benutzt, wird die Ansprache eine Ansprache an die Erkenntnis, an die Erweiterung des Erkenntnisvermögens:

„Wenn Sprache ein Erkenntnisinstrument ist, dann wird es auch möglich sein, das Scheitern eines Gedankens an der Sprache, in der er sich vollzieht, abzulesen – für den Fall, dass es eben nicht zur Erkenntnis kommt  und die Ansprache vielleicht nur dazu diente, etwas anderes zu verbergen. […] Ein Text muss nicht harmlos sein, nur weil mir die richtigen Fragen, mit denen ich ihn zum Sprechen bringen könnte, nicht einfallen wollen.“

Und Daniela Seel: „ Angenommen, das Gedicht wäre der Ort, wo alles – alles Sprachliche – zusammenkommen und synthetisiert werden kann, eine letzte Utopie, die weit Entferntes in Beziehung setzt und zurück in die Gemeinschaft trägt, […] Niemand hier ist ohne Verantwortung. Im Lesen bin ich verstrickt in Welt wie Gedicht.“

 

I Champagner Lesetagebuch

Inzwischen ist viel Zeit vergangen, die ersten Rezensionen sind da. Darunter eine sehr schöne, gewohnt fundierte, von Michael Braun in der Zeit.

Trotzdem ein paar eigene Gedanken. Zur Frage der Notwendigkeit des „Neuen“, mit denen sich zwei Veranstaltungen (die zweite war so ernüchternd und banal, dass ich verzichte darüber zu schreiben), die ich letzte Woche besucht habe, mit einer sehr unterschiedlichen Haltung beschäftigt haben, lese ich bei Rinck ein Zitat von Hans-Christian Dany

„Was sich in Bewegung setzt, muss die Vorstellung von dem, was kommen wird, aufgeben, um sich dorthin zu bewegen, wo es noch nicht war.“

Das ist sicher ebenso richtig wie eben nicht vorstellbar. Denn wie könnte ein noch nie betretener Raum vorstellbar sein? Stellen wir uns nicht immer nur Dinge vor, die in irgendeiner Weise schon gewesen, schon angelegt sind? Andererseits wäre so sämtliche Science Fiction nie geschrieben worden. Scheinbar habe ich mich gerade selbst widerlegt. Fortschritt meint für mich in erster Linie Bewegung, Beweglichkeit. Das muss nicht unbedingt in Richtung Zukunft sein. Könnten sich nicht auch völlig neue Perspektiven eröffnen, indem man die Vergangenheit anders betrachtet, auf bisher nicht gesehene Weise erschließt? Ich denke an den Verlagsabend am letzten Dienstag, aber auch an eine sehr gute Besprechung von Eric Vuillards “ 14. Juli

Also den erwartungsvollen Blick ins Künftige getrost auch in die Vergangenheit richten?

Unabhängig davon, in welche Richtung die Blicke gelenkt werden, die Feststellung Rincks, das Bilder (Vorstellungen) und Begriffe einander wechselseitig als Filter dienen, die die Wahrnehmung verzögern, behält Bestand.

Diesen „Filter“ führt Rinck als Denkfigur des Gedichts ein. Ein poetischer Filter, der die Aktualität anders behandeln kann. Rinck schreibt, die poetische Sprache verfüge über die Quailtiät „[…] die Veränderlichkeit der Dinge in ihrer Beschreibung aufzubewahren […]“ Das Gegenteil von Festschreiben, eher eine Öffnung der Perspektive. So eine Beschreibung schließt ein „Verstehen“ dem Wort nach aus, weil es sich eine bewegliche Haltung einschreibt.

Und es spricht für die ganz wunderbar gelungene Zusammenstellung dieses Lesebuchs, wie das Gedicht „Vom Fernbleiben der Umarmung“ an diese Gedanken anknüpft. Insbesondere diese Zeile: „[…] ihnen half das nicht mehr, aber ihm half es, dem verbesserten menschen.“ Wie dort das individuelle Scheitern zu etwas nutzbringendem für die Gemeinschaft werden kann, weil allem, was beschrieben werden kann, auch die Veränderung eingeschrieben ist.

Lesetagebuch „Champagner für die Pferde“

Da mir der Fischer Verlag ganz offensichtlich kein Rezensionsexemplar schickt, habe ich „Champagner für die Pferde“ gestern bei Buchhändler meines Vertrauens erworben.

Was für eine Bereicherung! So viele nicht nur kluge, sondern wirklich weit ins Offene führende Gedanken (und ich habe gerade erst die allerersten 20 Seiten gelesen).

Wie Rinck Gedanken aufnimmt, hinterfragt und weiterspinnt, und dabei funkelnde, perlende intellektuelle Netze spinnt, ist prickelnd und köstlich, die eigenen Gedanken erweiternd und beflügelnd.

Ich bin sehr gespannt, was die Kollegen schreiben werden, die in den Genuss eines Rezensionsexemplars gekommen sind.

Bis dahin schreibe ich ein Lesetagebuch und genieße die das eigene Denkvermögen weitenden Texte von Monika Rinck.

Texte, mit denen sie auf den Punkt bringt, was in mir gearbeitet hat, ohne dass ich es wirklich zu fassen bekommen habe.

Auf Seite 10 zitiert Rinck Luise Meier: „Man identifiziert sich nicht mit den Teilnehmerinnen am Wettbewerb, sondern mit der Jury. All die Kränkung, die der bewertete Körper, die bewertete Stimme, die bewertete Performance, die duellierende Politikerin erfährt, übersetzt sich für die Zuschauerinnen in die Macht derjenigen, die die Regeln kennen und das Urteil fällen [..]“

Sie bezieht sich mit diesen Sätzen auf all die Casting- und Wettbewerbsshows, die ihr Publikum scheinbar nicht verlieren, das Interesse an derartigen Formaten scheint ungebrochen. Aber diese Sätze treffen mich auch an einer ganz eigenen Stelle, obwohl ich diese Formate widerlich, oder zumindest suspekt finde. Es geht um die Regeln. Es geht um meine Versuche als Rezensentin. Um diesen Glauben an Regeln, daran, dass alle die sie kennen, besser sind als ich, klüger, berechtigter ihre Meinung zu äußern. Darum, wie sehr mich das von Jahr zu Jahr stärker gehemmt hat, wie mein „natürlicher“ Zugriff auf Texte, mein aufrichtiges Sprechen über meine Leseerfahrungen darunter so sehr gelitten haben, dass ich es tatsächlich verlernt habe.

„Menschen mit Haltung und Selbstbewusstsein, Menschen, die scheitern und wieder aufstehen, aktiv sind. Alles scheint ganz klar zu sein. Das ist das Schlimmste. Wenn alles nachvollziehbar, logisch, bis in den letzten Winkel verständlich ist. Du weißt so geht der richtige Weg. Aber du kannst ihn nicht gehen. Nichts davon hat auch nur das Geringste mit dir zu tun. Als wären die Sätze, die du sagst falsch, nur weil keiner sie hören will.

Das habe ich am 03. März in mein Tagebuch notiert. Und das sagt ja eigentlich genau das, nur aus einer Perspektive, in der jemand in seinem eigenen Netz feststeckt, bevor ein anderer einen klaren Blick von außen darauf wirft.

Und das ist etwas, das Rinck in einer Fußnote dem absoluten Ideal der Gegenwärtigkeit entgegensetzt. Klarheit und Mut als Gegengewichte zu Konkurrenz und unbedingter Gegenwärtigkeit.

„Das absolute Ideal der Gegenwärtigkeit“, schreibt sie, „an dem sich, wie manche Leute meinen, alle Literatur zu messen habe, ist übrigens nicht der Film, nicht einmal der 3-D-Pornofilm, sondern der Autounfall. Der unvorhergesehene Autounfall, nach dem nichts mehr ist, wie es war. Nein, das kann, also das kann, das kann die Literatur nicht. Zum Glück! Zum Glück, möchte man den Ideologen der Plötzlichkeit zurufen. Die Literatur könnte aber eine Person dazu bringen, die Beziehung zu einem prügelnden Partner abzubrechen. Mut als ästhetisches Phänomen.“