Hundert Worte am Tag. Das kann doch nicht so schwer sein. Man stellt sich die überaus gehaltvollen Gespräche der Oberiuten vor. Man denkt sich Daniil Charms, wie er am Fenster steht und seine Geschichten davonfliegen sieht, um ein Stück Brot für ihn zu ergattern und lehnt sich hinaus. Plötzlich ist der Himmel grau, es ist 2022 im Juli, in Deutschland.
Papiermützen
Zerreissen leicht, lassen sich aber in immer neuen Formen falten.
(65)
Als Kinder habt ihr viel geweint, sagt die Mutter und wird nicht müde zu betonen, dass diese Zeit im Rückblick die Schönste im Leben gewesen sein wird.
Schmelzpunkt
Die Nacht schmilzt langsam unter meiner Hand. Der Morgen kräht wie ein Hahn. Ich verwandle mich in Pechmarie und antworte mit Arbeitsverweigerung.
Ich werde rot vor Enthaltsamkeit.
Verstehen
Dinge verstehen. Andere Dinge, die man einmal verstanden hat, aus dem Gehege des Verständnis entlassen. Sich selbst verlieren im Denken und das als einen kleinen Splitter der Wahrheit betrachten.
Zeit
Die Zeit presst sich in ungeeignete Falten und dann friert sie ein. Ein kryptischer Satz, der selbst nicht recht weiß, wohin er will. Worauf er hinaus will. Ein Satz, der ins Leere läuft. Und vielleicht will er genau dort hin.
Während ich hier sitze, und gehaltvoll zu schreiben versuche, summt mir eine Fliege ihr Lied. Zeit, singt sie, Zeit kann man nicht beschreiben.
Haiku
Der stumme Baum wächst
ich stelle meine Fragen
unter sein Blätterdach
Jugend Schreibt
Ich war wirklich sehr aufgeregt. Aber dann war ich in diesem Raum, Raum 107, und alle Aufregung war verflogen. Der Workshop war trotzdem nicht besonders gut. Die Jugendlichen hätten lieber geschrieben, das konnte ich deutlich spüren, aber ich hatte nur einen kurzen Schreibimpuls zum Ankommen vorgesehen. Danach ergaben sich fast mühelos Gespräche. Alle Teilnehmer:innen waren sehr kooperativ. Dass alles dann doch schneller ging als geplant, dass ich keine 60 sondern nur knapp 45 Minuten brauchte, machte am Ende eines langen Tages während dessen es immer heißer wurde, auch nicht viel aus. Aber sie hätten lieber geschrieben. Und mir tut es leid, dass ich sie nicht schreiben gelassen habe. Denn sie schreiben alle ganz wunderbar und einzigartig, und ich bin sehr dankbar für die Sätze, die sie mir zum Thema „Wenn ich schreibe…“ geschenkt haben.
Die Sehnsucht anders zu sein
„Die Sehnsucht, anders zu sein, als du bist. Das ist der größte Schicksalsschlag, der einen Menschen treffen kann. Die Sehnsucht, anders zu sein, als man ist: eine schmerzlichere Sehnsucht könnte im Herzen nicht brennen. Denn das Leben läßt sich nur ertragen, wenn man sich mit dem abfindet, was man für sich selbst und für die Welt bedeutet. Man muß sich damit abfinden, daß man ist, wie man ist, und wissen, daß man für dieses weise Verhalten vom Leben kein Lob bekommt, daß einem keine Orden an die Brust gesteckt werden, wenn man weiß und erträgt, daß man eitel ist oder egoistisch oder glatzköpfig und schmerbäuchig – nein, das muß man wissen, daß man kein Lob, keine Belohnung erhält. Man muß es ertragen, das ist das ganze Geheimnis. Man muß seinen Charakter, sein Naturell ertragen, da weder Erfahrung noch Einsicht an den Mängeln, am Eigennutz und an der Habgier etwas ändern. Wir müssen ertragen, daß unsere Sehnsüchte in der Welt kein vollkommenes Echo haben. Wir müssen ertragen, daß die, die wir lieben, uns nicht lieben, oder nicht so, wie wir es hofften. Man muß Verrat und Treulosigkeit ertragen, und man muß, schwerste aller Aufgaben, es auch ertragen, wenn einem jemand charakterlich oder intelligenzmäßig überlegen ist.“
Sándor Márai : Die Glut
Und dazu gäbe es noch sehr viel zu sagen. Und dem gibt es nichts hinzuzufügen.
Zeit
Wir lebten in einem Aquarium (Haut, Sinne und Denken unter Wasser). Und als wir wieder auftauchten, waren zehn Jahre vergangen.
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