100 Worte. 100 Tage. Tag 35

„ich suche die worte und stolpere gegen einen körper“

Eva Maria Leuenberger. „Kyung“

Immer bin ich auf der Suche. Ständig fehlt etwas. Seltener, viel seltener, ist da zu viel. Das ist nicht die Wahrheit, aber weil ich fest und ohne zu zweifeln, daran glaube, ist es meine Wirklichkeit. Ich senke den Kopf, halte ihn geneigt, weil ich das, was ich suche auf dem Boden vermute. Ich verliere den Überblick, es gibt keinen Horizont mehr, nur diesen kleinen begrenzten Raum auf dem Boden, den mein Blick erfassen kann. Plötzlich gibt es einen Zusammenprall. Einen Stoß, der mich aus dem Gleichgewicht bringt. Die Erinnerung, dass es ja nicht nur Worte gibt, sondern auch noch Körper.

100 Worte. 100 Tage. Tag 34

„Die Stimme meines Vaters wird beerdigt

unter Gefiedern meiner Mutter.“

Karla Reimert. „Picknick mit schwarzen Bienen.“

Heute haben wir deine Stimme beerdigt. Mutter war nicht dabei, sie war beschäftigt. Statt ihrer Anwesenheit hat sie uns ein paar Erinnerungsstücke überlassen. „Macht damit was ihr wollt“, hatte sie gesagt, bevor sie in den Zug gestiegen war. Es war trotzdem feierlich. Mutter hat fast gar nicht gefehlt. Mit einer Schaufel haben wir sehr ernsthaft Erde auf deine Stimme geworfen und die rituellen Worte gesprochen: Asche zu Asche. Staub zu Staub. Wir haben uns an den Händen gehalten und durchgehend ernst geschaut. Einige von uns haben versucht zu weinen. Niemand konnte sich vorstellen, wie es sein würde, ohne deine Stimme.

100 Worte. 100 Tage. Tag 33

„Dazu sind wir da, dass wir Luft für euch sind.“

Martina Hefter. „Uns Geister muss es auch geben.“ in: „In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen.“

Es war eine mondlose Nacht, drei Tage nach ihrem Tod als es geschah. Ihre Schuhe verliefen sich. Und sie, seltsam ungelenk, wie immer seit dieser Sache, stolperte ihnen hinterher. Als sie die Schuhe schließlich eingeholt hatte, hatten beide endgültig jegliche Orientierung verloren. Da saß sie nun mit den schönen Schuhen in ihren fahlen Händen. Ratlos ließ sie den Blick schweifen über Gegenden, die nicht einmal in ihren Träumen einen Anhaltspunkt hätten finden können. Da wusste sie, dass sie angekommen war. Aber um dem Spiel gerecht zu werden, wisperte sie: Wo sind wir? Und ihre Schuhe und sie mussten haltlos lachen.

100 Worte. 100 Tage. Tag 32

„Ich bin vielleicht zwei Jahre alt und gerade wach geworden.“

Wolfgang Herrndorf. Arbeit und Struktur.

Lange Zeit habe ich die Geschichte so erzählt, dass es immer wieder eine Verletzung war. Jedes Mal schien der Schmerz berechtigt zu sein, die Scham angemessen. Bis der Moment kam, in dem ich die Geschichte ebenso erzählte wie all die Jahre zuvor, mit dem gleichen Gefühl der Alternativlosigkeit, aber da war ein Gegenüber, das Mitleid äußerte, dass die Geschichte anders verstand. Erst in diesem Moment begriff ich, dass wir selbst entscheiden dürfen, wie wir die Geschichten erzählen, dass sie sich entwickeln dürfen und verändern wie wir selbst. Dass manche von den Geschichten, die uns ein Leben lang begleiten, Lügen sind.

100 Worte. 100 Tage. Tag 31

„Einmal schrieb ich in ein Heft über dich: Die Geschichte seines Lebens erzählen heißt, die Geschichte meiner Abwesenheit schreiben.“

Edouard Louis. „Wer hat meinen Vater umgebracht“

Seltsam, dass ein vollkommen fremder Mensch aus einem anderen Land, der einer ganz anderen Generation angehört, für seinen Vater genau die Worte findet, die die Geschichte des Lebens meiner Mutter erzählen. In mindestens zweifacher Hinsicht. Eine Geschichte, die aus Abwesenheit besteht. Weil ich nicht das leibliche Kind war, weil ich als leibliches Kind der einen nicht vergönnt gewesen bin, während die andere aus welchen Gründen auch immer, keine Mutter sein konnte für das Kind, das sie zur Welt gebracht hatte. Und so blieb nur das Heft mit den Abwesenheiten, abwechselnd füllten wir Seite um Seite. Mit der Geschichte unseres Lebens.

100 worte. 100 Tage. Tag 30

„wir hatten bereits

das brot bereitgestellt und den salat“

Linda Vilhjálsdóttir. „Freiheit“.

Alles was zu tun war, hatten wir getan. Den Tisch gedeckt, Brot und Salat bereitgestellt. Dennoch liefen wir nervös von hier nach dort und von einem Raum in den anderen. Der Blick wanderte immer wieder vom Fenster zur Tür und zurück. Wir sahen auf die Uhr, der Zeiger rückte vor. Weiter geschah nichts. Das Brot wurde trocken, der Salat welk. Wir hatten der Freiheit doch alles so schön angerichtet. Jetzt wollte und wollte sie nicht eintreffen. Erst machten wir uns gegenseitig verantwortlich, dann waren wir gemeinsam gekränkt. Bis heute haben wir nicht verstanden warum sie unserer Einladung nicht gefolgt ist.

100 Worte. 100 Tage. Tag 29

„Auf einem Schwarz-Weiß-Foto zwei junge Mädchen auf einem Weg, Schulter an Schulter, beide die Hände auf dem Rücken.“

Annie Ernaux. „Die Jahre“

Jugend und Alter. Das sind die Hände, die mein Großvater gekreuzt im Rücken hält, wenn wir spazieren gehen. Die eine hält die andere. Sie geben ihm Rückhalt. Seltener halten sie ihn auf. Manchmal ist er ein junger Mann, frisch verliebt und ohne jegliche Ahnung von dem, was ihm noch zustoßen wird im Laufe der Jahre. Ein anderes Mal läuft er der Vergangenheit davon, will nichts wissen von alten Versprechen und Verpflichtungen, die ihm zugewachsen sind durch die eine oder andere Entscheidung. Dann stürzt er sich bedenkenlos in eine Zukunft, die gerade deshalb so verlockend ist, weil es sie nicht gibt.

100 Worte. 100 Tage. Tag 28

„Einfache Erklärung: Alles wiederholt sich.“

Margret Kreidl. „Einfache Erklärung. Alphabet der Träume“

Die einfache Wiederholung erklärt alles. Mit dieser Behauptung ist alles gesagt. Das heißt jedes Gespräch wird überflüssig. Das ist keine Möglichkeit aber nichtsdestotrotz eine häufig ausgeübte Praxis. Denn diese Behauptung steht fest. Das Leben aber ist Bewegung. Lösungen wachsen und schrumpfen, verschwinden und tauchen auf. Es gibt auch keine letztgültigen Erklärungen, nicht einmal einfache Wiederholungen. Aber Sätze voller falscher Behauptungen, die angeben sie ständen fest. Dabei wusste schon Heraklit, dass wir niemals zweimal in den selben Fluss steigen können. Alles verändert sich. Das ist ein einfacher Satz. Der darüber hinaus auch noch wahr ist. Und trotzdem sehr schwer zu verstehen.

100 Worte. 100 Tage. Tag 27

„die wespe unter der zimmerdecke

das rote fensterbrett im zweiten stock

die abgebrochene antenne“

Nadja Küchenmeister. „Im Glasberg.“ Gedichte

Traurig stehen wir voreinander. Wir haben einander nichts mehr zu sagen. Sprachlos sind wir deswegen nicht. Nicht ganz, noch nicht. Und weil wir einander nichts zu erzählen haben, zählen wir auf. Wir zählen die Insekten, die Fruchtfliegen und Wespen, die immer spärlicher werdenden Fliegen, die Ameisen und Stockwerke, in denen wir einmal gelebt haben. Wir zählen auf, was wieder kaputt gegangen ist in den letzten Wochen und Monaten. Wir finden Farben und erfinden Geräusche dazu. Wir erzählen, aber wir zählen nicht länger auf zwei. Manchmal ist dieses Verfahren besser als jede Art der Unterhaltung. Und manchmal ist es unendlich traurig.