Schummeln

Natürlich schummle ich. Ich schummle aus Einsamkeit. Wer einsam ist, hat es besonders nötig, alles richtig zu machen, gut und anerkennenswert. Das geht nicht, ohne zu schummeln. Das Schummeln ist keine Ausrede sondern eine Bedingung. Manchmal ist es gut, die Dinge hinzuschreiben. Denn kaum steht da dieser Satz von Ausrede und Bedingung, entsteht ein neuer Gedanke. Was, wenn die Anforderung, das Ziel verkehrt ist? Vielleicht beginnt das wahre Schummeln hier? Darin, dass ich mir die falschen Ziele gesetzt habe? Ich könnte aufrichtig sein und mich anfreunden mit meiner Einsamkeit, wenn ich sie als etwas anerkenne, das zu mir gehört. Mich ausmacht.

100 Worte. 100 Tage. Tag 100

„eine frau sitzt vor einer leinwand. Ihre haare sind schwarz.“

eva maria leuenberger. Kyung.

Schwarz wie Ebenholz, rot wie Blut, weiß wie Schnee. Unbefleckt wie eine Leinwand. Und ebenso einladend. Alles kann man hineinschreiben in ihr Gesicht. Dann stellt sie sich gegen den Wind, der lässt ihre Haare wie einen Vorhang vor ihr Gesicht fallen und alle Einschreibungen sind ausgelöscht. Ihr Gesicht ist wieder rein. Unbeschrieben. Und alles beginnt von vorn. Ein Leben lang erst die Märchen, dazwischen der Schnee, zum Schluss das Blut. Das sind weniger als 100 Worte. Aber sie sind zu schwer. Und erschöpfen mich. Eine Frau sitzt vor einem Blatt Papier. Ihre Haare waren einmal schwarz. Das Blatt bleibt weiß.

100 Worte. 100 Tage. Tag 99

„Wenn die Hoffnung derart zerschmettert war, zog sich meine Mutter mit heftigen und gereizten Bewegungen an, als wäre jedes Kleidungsstück eine Beleidigung für sie.“

Tove Ditlevsen. Kindheit

Nackt wie ein Staunen gehe ich aus der Tür. Draußen weht leichter Wind, der Mond zieht sich hinter Wolkenschleier zurück, als wäre es ihm peinlich, mich so unbedeckt zu sehen, als würde er sich für mich hinter Bergen von Wolken verstecken. Dann werden die Wolken zu meinen Kleidern. Es ist nicht wichtig, ob sie wärmen, ob sie sich angenehm anfühlen auf der Haut oder nicht. Wichtig ist, dass ich etwas über die Haut lege, etwas, das wie eine Beleidigung auf der unversehrt dünnen Hülle liegt. Etwas, das die Hoffnung bedeckt, die Welt könnte uns sehen wollen, wie wir wirklich sind.

100 Worte. 100 TAge. Tag 98

die erde ist ein kugelförmiges raumschiff, […]

Carl-Christian Elze. „diese kleinen, in der luft hängenden bergpredigenden gebilde“

Alles ist mir zu laut und zu leise, zu hell oder zu dunkel. Es ist mir alles zu viel. Denn ich finde die Mitte nicht. Die Mitte von diesem seltsamen Raumschiff, in dem ich umhertreibe, seit ich die warmrote Kugel verlassen musste, in der ich noch unbeschwert wuchs. Noch, schon, seit, bis, all diese Vokabeln der Zeit, konnten mir nichts anhaben im Mutterleib. Nicht verstehen gehört ein bisschen zur Freiheit. Aber diese Art Freiheit wächst sich aus. Dann muss sich eine entscheiden, sich die Mitte zu suchen, wo sie eben ist, nicht dort, wo alle behaupten: hier musst du landen.

100 Worte. 100 Tage. Tag 97

„Sein Unglück war, daß er sich langweilte.“

Mercé Rodoreda. „Der zerbrochene Spiegel“

Ich hätte gerne Mitleid mit ihm. Aber sein Leiden ist mir so fremd, dass es mir nicht gelingen will. Was er als sein Unglück bezeichnet, ist Langeweile. Er leidet unter Tagen unbeschwerten Lebens, unter seiner monotonen Arbeit in einem sicheren Büro. Unter einer leidenschaftslosen Beziehung, in der er sicher, geborgen und manchmal sogar geliebt ist. Das alles macht ihn müde, so unendlich müde, dass er sich beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass all das Partikel von Glück sind. Er müsste sich nur einmal bücken, um sie aufzuheben, in die Luft zu werfen und zu staunen, was er dann sieht.

100 Worte. 100 Tage. Tag 96

„Es ist Morgen und die Frauen sind furchtlos.“

Monica Fambrough. „Les Femmes, Les Fleurs“ (sukultur)

Jeden Morgen erwachen die Frauen etwas früher als die Angst. Früh genug, um die Kinder mit Hoffnung zu stillen. Um die Spinnweben der Angst zu entfernen, und die Fenster aufzureißen. Durch das geöffnete Fenster steigt der Tag. Er trägt silberne Ohrringe, in denen trifft die Liebe auf den Hass usw. Wir kennen das, die alte Geschichte von oben und unten, gut und schlecht. Der Tag setzt sich, und die Frauen bieten ihm Kaffee an. Dann trinken sie schweigend. Selbst wenn die Furcht sich einschleichen sollte, im Laufe eines langen Tages, die Frauen wissen: am Morgen werden sie wieder furchtlos sein.

100 Worte.100 Tage. Tag 95

„Es gibt keine Mythologie: Odysseus erhängte sich.“ Ilya Kaminsky. Tanzen in Odessa.

Es gibt Geschichten, die wir töten müssen, zerteilen und die Teile an unterschiedlichen Orten vergraben. Es gibt Gräber und Aprikosenbäume. Es gibt sogar Gräber auf denen Aprikosenbäume wachsen. Und es gibt uns. Unsere Lügen und Helden, die erst ihre Stimme verlieren und wenig später ihr Leben. Odysseus Gesang drehte sich zu ihm um. Er tanzte und lachte unaufhörlich um ihn herum. Das ist nichts, was sich aushalten lässt. Odysseus sah keinen Ausweg. Die Raben, die ihm die Augen aus dem Schädel pickten, sagt man, singen auf sonderbare Art. Man sollte ihnen aus dem Weg gehen, oder mit verschlossenen Ohren tanzen.

100 Worte. 100 Tage. Tag 94

„solange mir dornen wachsen in der absagen wuchernden

welt fällt mir das fluchen leicht.“

Ines Berwing. „sieben leben“ in Fee Nummer 13, Hg. Beate Tröger

Man kann das Wort Absage übersetzen, um damit zurecht zu kommen. In fremde Sprachen übertragen, in denen es weniger hart klingt, weil man die Bedeutung nicht auf Anhieb versteht. Oder man kann sich Dornen wachsen lassen, aus denen Flüche austreiben, die eine Hecke entstehen lassen, hinter der eine sich sicher fühlen kann, behütet, um Kraft zu sammeln für den nächsten Gang nach draußen, das erneute Klopfen an eine Tür. Getrieben von der Hoffnung, manche der Dornen könnten sich in Blüten verwandeln. Draußen liegen bunte Sträuße voller Sätze, Blumenwiesen, die alle pflücken dürfen, wenn sie nur die Türen und Fenster öffnen.

100 Worte. 100 Tage. Tag 93

„Wandwarnung für Fremde, sagt eine Redensart. Der Augenblick will geschrien werden.“

Terje Dragseth. „bella blu“.

Das ist das Schöne, dass ich kein Wort verstehe, wenn du sprichst, und trotzdem ist da eine Art Erkennen, etwas, das mich willkommen heißt, mir sagt, du bist hier bei mir genau richtig. Wir können uns vielleicht nicht mit Worten verständigen, aber wir beide sind von der gleichen Art. Auf der Suche nach etwas, das wir nicht benennen können, das uns forttreibt, uns dazu bringt manchmal seltsame Schreie in die Atmosphäre zu schicken. Denen wir lauschen, wie etwas, das fremd und entlegen ist. Und dann schweifen wir noch ein weiteres Leben lang umher. Hinter Wänden und Wanderungen. Und immer allein.