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Der Regen fällt überhaupt nur, weil er erleichtert ist, weil es ihn erleichtert, weil er leicht genug ist, um sich fallen lassen zu können. Was für ein Rausch, denkt er, und dass alles eitel ist, das steht bereits in der Bibel. Also ist auch er eitel. Und ein Verbrechen ist das nicht. Nicht einmal eine Sünde. Aber auch nicht so schön, wie zu scheitern, nicht so erleichternd. An der Bemühung, nicht zu scheitern, das Scheitern zu vermeiden, die Beschämung und die Genugtuung derjenigen, die schon immer wussten, dass wir das nicht können (wir Regentropfen, oder wir Anna, Brigitte, Claudia…) zu vermeiden, haftet eine Schwere, eine Aufgabe, die es verhindert, dass wir beschwingt durch die Gegend laufen, oder eben auf unsere eigene unnachahmliche Art und Weise vom Himmel fallen. Diese Schwere ist wie der Glassarg, in dem Schneewittchen liegt, unfähig sich zu bewegen, nicht einmal mit der Möglichkeit versehen, die Augen zu öffnen. Und die Zwerge, die es doch eigentlich gut mit ihr meinen, haben nichts Besseres zu tun, als sie den Blicken aller auszusetzen. Leider kann man Schwere nicht teilen. Nur abwerfen. Und so muss auch Schneewittchen in ihrem Sarg stolpern und fallen, um wieder die zu werden, die sie einmal war. Also eine, die verstoßen und verfolgt wurde, und dann Freunde fand, die sie aber nicht beschützen konnten. Und für die jetzt angeblich alles gut ist, weil ein schöner Prinz sie heiratet. Ich weiß gar nicht, ob ich das Märchen von Schneewittchen jemals mochte. Vielleicht nur den Anfang, die Bluttropfen, das Ebenholz, der Wunsch, eine nähende Frau am offenen Fenster. Und ihr Scheitern. Denn wenn sie geschickt gewesen wäre, hätte sie sich nicht gestochen. Und es hätte nie ein Schneewittchen gegeben. Eine der unendlich vielen Geschichten vom Scheitern.

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Isabelle Lehn – Frühlingserwachen – wieder keine Rezension

In der Volltext kürzlich einen schönen Artikel von Jan Wilm über Isabelle Lehn (und Eileen Myles, mit deren Buch ich allerdings sehr wenig anfangen konnte) gelesen, und neugierig geworden auf ein Buch, das Wilm zu diesen ziemlich wertvollen Überlegungen zum Scheitern bei Lehn gebracht hat: „Die entscheidende Dynamik des Romans ist eine Beckett´sche – das bessere Scheitern, no matter, try again, fail again, fail better. Es ist Isabelle nicht nur egal, dass sie scheitert. Ihr Scheitern ist eine Entscheidung fürs Scheitern – und die Entscheidung nimmt der Existenz-Kontingenz die schicksalhafte Kraft und macht aus Opfer Akteur.“

Das Buch wollte ich lesen. Und als ich es dann zu lesen anfing, die schöne, immer wieder erstaunliche Erkenntnis, dass auch andere das kennen: sich selbst müde sein.

Andererseits eine seltsame Erkenntnis, dass ich mich hier vor fast 20 Jahren wiederfinde, wie ich mich damit auseinanderzusetzen versuche, zu altern. Seit so langer Zeit schon. Und ich werde nicht fertig damit.

Aber darum geht es eigentlich nicht. Eher um solche Stellen:

„Ich bekomme auch graue Schamhaare. Es sieht wie angeschimmelt aus, es muss ein Irrtum sein, und ich fühle mich von meinem Körper betrogen. Es ist bloß Melanin, sage ich mir, und trotzdem fühlt es sich falsch an: der Gedanke, vielleicht doch noch ein Kind zu kriegen, irgendwann später, wenn das erste, was dieses Kind von der Welt sehen wird, das graue Schamhaar seiner schimmelnden Mutter ist.“

Ich meine, ja, das ist witzig. Und überspitzt, und trotzdem charakterisiert so eine Überlegung ja nicht nur die Figur, sondern ist etwas typisch weibliches. Weil, behaupte ich mal, ein Mann, selbst wenn er derjenige wäre, der die Kinder zur Welt bringen würde, sich niemals derartige Gedanken machen würde. Und wir Frauen müssten das doch auch nicht. Warum ist es dann trotzdem gar nicht abwegig, dass eine Frau so denkt?

Für eine Antwort kann man endlos lange wissenschaftliche Theorien heranziehen, oder sich ehrlich fragen. Sich einfach so, ohne wissenschaftliche oder sonstwie zitierfähige Quellen, dieser unbequemen Frage stellen. Humor macht es sicher weniger lamoryant. Weniger schmerzhaft nicht.

Bei Lehn klingt das so:

„Die Wahrheit über die Erfahrung als weiblicher Körper ist das damit verbundene Bewusstsein der Scham. […] Der Körper, der von mir erwartet wird, ist weder stumm noch zu laut, weder wütend noch traurig. […] Mein Körper, der an sich leidet und immerzu etwas vermisst.“

Erwartungen, Scham, Ungenügen, Mangelhaftigkeit. Als typisch weibliche Erfahrungen.

Und was eine Frau daraus machen kann.

Ehrlich zu sich selbst sein, und Kohärenz und Schönheit in das Scheitern bringen, ohne es (das Scheitern, das Versagen und nicht fertig werden) zu verbergen. Vielleicht ist es in allererster Linie das, worum es mir geht. Was mich befreien könnte. Mir so eine Grundehrlichkeit erarbeiten, die ja letztendlich auch Freiheit ist. Befreiung.

Und noch einmal Lehn:

„Dabei glaube ich an den Verstand. Ich glaube an den freien Willen, die Kraft der Gedanken, die Selbstheilungskräfte des Körpers durch Achtsamkeit, an die Gnade der späten Geburt, ich glaube an unverdiente Privilegierung und sogar daran, ein gutes Leben zu führen. Aber ich glaube auch an Stoffwechselstörungen. Ich glaube an Biochemie, Serotoninmangel und erhöhte Entzündungswerte, an Schlafmangel und Reizüberflutung, ich glaube an Erschöpfungszustände. Alkohol und Nikotin, an Penetration und die Sehnsucht nach Selbstaufgabe. Ich glaube an die Würde des Scheiterns, an die Komik des Leids, ich glaube an die Schamlosigkeit, an die Stärke der Schwäche, die Wirksamkeit von Psychopharmaka und an das Recht darauf, mir helfen zu lassen.“

Ich bin durchaus nicht immer einer Meinung mit der Isabelle Lehn aus Frühlingserwachen, aber ich mag diese Art zu schreiben, dieses teilweise essayistische. Die Verbindung von wissenschaftlichen Zitaten und Tagesnachrichten mit persönlichen Erfahrungen, Erlebnissen, Bekenntnissen.

Im Grunde genommen leide ich immer noch unter diesem Irrglauben, es gäbe richtig und falsch, und richtig bedeutet alles zu berücksichtigen und so allein durch Fleiß und Einsicht zur ultima ratio zu gelangen. Nicht durch Auseinandersetzung und Kompromisse.

Die Auseinandersetzung lese ich lieber als sie selbst zu praktizieren, vielleicht auch im Glauben, ich könnte es durch das Lesen der richtigen Bücher lernen. Ein Glaube, der mich schon sehr lange begleitet. Und den ich auch gar nicht aufgeben will.

Wie dem auch sei, in Lehns Frühlingserwachen sind mir die Stellen an denen die Protagonistin über ihren Körper spricht wichtig. Da ist auf einmal die Freundin, die ich eigentlich nie hatte. Die über diese Blutmassen spricht, die während der Menstruation aus einer herausfließen, über die Bauchkrämpfe und all die peinlichen Situationen, wenn Frau die Kleidung durchgeblutet hat, wenn man Nachts von einem Schwall Blut geweckt wird, den kein Tampon aufsaugen zu können scheint. Als meine Freundinnen und ich das erste Mal die Regel bekamen, sprach man höchstens verschlüsselt und verschämt von der „Tante aus Bad Rothenfelde, die zu Besuch war“. Und auch später fühlte ich mich immer allein mit dem Gefühl alle drei Wochen mindestens 5 Tage ziemlich eingeschränkt zu sein, in dem was ich tun konnte, immer ängstlich darauf bedacht, nicht irgendwo Blutflecken zu hinterlassen.

Glücklich meine Tage zu bekommen, war ich nur dann, wenn ich befürchtete, schwanger zu sein. Eine der schönsten Nebenwirkungen der dann einige Jahre später sehr gewollten Schwangerschaft war das Ausbleiben der Regel.

Die Frauen in meiner Umgebung, die überhaupt über so etwas sprachen, fanden es unbegreiflicherweise schön zu bluten. Sie fühlten sich gut oder sogar noch besser. Also musste das Problem eindeutig bei mir liegen. Ich hatte es nicht im Griff. Ich hatte eine falsche Einstellung zu meinem Körper.

Erst kürzlich erzählte mir eine Freundin, sie wolle gar nicht wissen, ob sie schon in der Menopause sei (aus irgendeinem verhütungstechnischen Grund blutet sie nie). Sie möchte sich lieber weiter als „richtige“ (sic!) Frau fühlen. Und jetzt habe ich dank Isabelle Lehn (und Liv Strömquist. Dazu bald mehr) wenigstens einige für mich außerordentlich befreiende Sätze, die mich glauben lassen, dass vielleicht gar nicht ich es bin, die falsch ist. Dass der Fehler an einer ganz anderen Stelle zu suchen ist.

Ich habe jetzt zugegebenerweise sehr viel mehr über mich als über Isabelle Lehns Buch geschrieben. Über das Buch selbst kann man hier und hier und hier nachlesen oder hören. Oder noch besser: gleich das Buch selbst lesen.

Netze aus Sanftmut und Wut

Denke über Sanftmut nach. Über Wut. Über Überforderung und den Mut, den eine braucht, um Fehler zu machen, um nicht aus Angst vor Fehlern einfach gar nichts zu machen. Und zu sagen.

Andererseits glaube ich, dass Wut überbewertet wird. Sie ist sicher nicht das Allheilmittel. Es ist okay, wütend zu sein, aber traurig oder nachdenklich, sogar niedergeschlagen zu sein, ist ebenso okay. Und jede von uns richtet etwas anderes auf, treibt etwas anderes an, zu handeln.

Jeder Faden ist anders, jeder Faden ist wichtig, um das Netz weit, stabil und reißfest zu machen. Es gibt keine letztgültigen Antworten. Nur immer wieder neue Versuche, aufzustehen und weiter am Netz zu weben, das den Fall abfedert.

„Wenn das noch geht kann es nicht so schlimm sein – Benjamin Maack“ – Keine Rezension

„Entwaffnend ehrlich“, auch bei diesem Buch stehen diese zwei Worte auf dem Klappentext. Und während ich derartige Werbebotschaften sonst eher unbemerkt hinnehme, überlese, frage ich mich plötzlich, was damit eigentlich gemeint ist: entwaffnend ehrlich. Als hätten wir nichts besseres zu tun, als mit Schwertern und Pistolen auf die Lügen der anderen los zu gehen. Als würden wir nicht ganz gerne mal ein paar Lügen hören.

Und ich erinnere mich, an die Tage, die schon immer Schwundstufen ihrer selbst waren. Wenn es einen durchgehenden Sinn in meinem Leben gibt, dann den, andere immer wieder aufs Neue zu enttäuschen.

Entwaffnend meint: sich in seiner Erbärmlichkeit zeigen. Ohne den Schutz von Masken. Aber es passt noch immer nicht. Weil man sich doch nicht strategisch entscheidet, sich so zu zeigen, als Reaktion auf eine Bedrohung. Ich meine, was sind die Waffen? Wofür stehen sie?

Also lese ich weiter. Von diesem Anspruch, fast schon Zwang, ein guter Patient sein zu wollen. Die Aufgabe, gleichzeitig krank genug zu sein, und bestmöglich an einer Heilung mitzuwirken, wird zu einer Schulaufgabe, die plötzlich zu einer Lebensaufgabe herangewachsen ist, die zur Zufriedenheit aller gelöst werden muss. Eine Aufgabe, an der man zwangsläufig scheitern muss. Das ist sehr aufrichtig und sehr traurig, und etwas, das zumindest ich, sehr gut nachvollziehen kann. Dieses Streben alles immerzu möglichst richtig und zur Zufriedenheit der anderen zu erfüllen, und die Überzeugung, es bei aller Anstrengung nie auch nur annähernd hinzubekommen.

Und dieser zermürbende Zweifel ist wertvoll. Weil er das einzige ist, was man hat. Weil man ja nicht einmal traurig ist, nur leer. Und in dieser Leere hegt man den Zweifel, in der Hoffnung, es könnte etwas anderes daraus werden als Selbsthass.

Oder der vermeintliche Wunsch zu sterben.

„Eigentlich willst du das nicht. Du kannst nur grad nicht nicht wollen.“

So einfach ist das. So widersprüchlich.

Und wie die schönen, vermeintlich poetischen Sätze, durch genaues Hinsehen, durch Aufrichtigkeit, die Abgründe offenbaren, die sie unter dem Eindruck des Schönen, nur dezent durchscheinen lassen.

„Ich bin ein unglücklicher Mensch, der mit Glück überschüttet wird.

[…]

Ich bin ein Mensch in panischer Angst, der mit Glück überschüttet wird, bis es ihm

die Luft abdrückt.“

Das ist ja auch eine Art von Entwaffnung.

„Mitten im Leben einige Schritte aus dem Alltag zurücktreten zu müssen, oder besser zu dürfen, und die Chance zu haben, sich alles anzusehen, ist befremdlich und verunsichernd. Für mich war es aber auch ein Abenteuer, ein ebenso schreckliches wie wunderbares Geschenk. Ich sah mein Leben an und sah, dass es Mist war.“

Entwaffnend. Jetzt habe ich es verstanden. Weil man die Rüstung ablegt. Sich verletzbar macht. Das ultimative Friedensangebot.

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Wie vorsichtig wir miteinander umgehen, und je rücksichtsvoller wir sind, um so tiefer geraten die Risse, wenn wir doch einmal stolpern, ein Wort, eine Bemerkung aus dem Rahmen fällt.

Ich habe davon geträumt, zu schreiben, und alle Welt will es lesen, um vollkommen hingerissen zu sein. Heute verkaufe ich Karten in einem Keller und gestehe mir das Scheitern ein. Es ist spät. Und vielleicht bringt die Nähe zum Tod ein wenig mehr Freiheit. Weil man in der Nacht die Grenzen und Konturen nicht mehr erkennen kann.

Grenzen

Seit wann habe ich eigentlich Angst vor Herausforderungen? Waren das diese Fälle bei fixpoetry und Signaturen, wo ich gescheitert bin? Habe ich mich davon nie richtig erholt? Einerseits ist es gut, dass ich kein Muster, kein erlerntes Schema habe, mit dem ich an die Kritiken herangehe, das ermöglicht mir eine gewisse Offenheit, und damit die Chance, im besten Fall andere, zusätzlich erhellende, Perspektiven anzulegen. Andererseits fehlt mir immer wieder der Halt, den das Handwerk mir verleihen könnte. Eine gewisse professionelle Sicherheit, die mich davon bewahren könnte, naive Fehler zu machen. Bedeutsames schlicht nicht zu erkennen.

Die Lösung kann wohl immer wieder nur sein, die eigenen Grenzen zu kennen und trotzdem an sich zu glauben, sich jedenfalls ernst zu nehmen in dieser Beschränktheit. Und dann den Mut zu haben, es zu zeigen. Wohlwissend, das wird nicht allen gefallen. Aber vielleicht gibt es einige wenige, denen es etwas bedeutet, die es vielleicht sogar ermutigt.

Falten

Falten, Entfalten. Es ist vermutlich kein Zufall, dass ich letzten Sonntag, in dieser Ausstellung gelandet bin. Einer Ausstellung, die nicht zuletzt von der Schönheit und den erstaunlichen Möglichkeiten des Faltens, der Falten, die Tiefe verleihen, erzählte.

Vielleicht ein weiterer Schritt, auf dem Weg zu begreifen, warum Alter und Scheitern bei mir in einem Text zusammen gefunden haben.: Ich glaube, ich habe unbewusst so ein vertracktes Denkmuster, das mir einredet, ab einem gewissen Alter darf man keine Fehler mehr machen, loslaufen, hinfallen, aufstehen gilt nur bis zu einem gewissen Alter. Dabei steckt in Wirklichkeit in den Falten vielleicht auch das Fallen, das sich fallen lassen.

Noch einmal Scheitern

Bei meinem ersten Eintrag nach langer Zeit, war es scheinbar insbesondere der Begriff „Scheitern“, der aufgegriffen und diskutiert wurde. Ich hatte dazu ein Zitat von Louise Bourgeois im Kopf, das ich aber seit Tagen nicht wiederfinde. Nun ist mir aber durch Zufall ein Zitat von Thomas Bernhard unter die Augen gekommen, das ich absolut passend finde:

Es gibt ja nur Gescheitertes. Indem wir wenigstens den Willen zum Scheitern haben, kommen wir vorwärts, und wir müssen in jeder Sache und in allem und jedem immer wieder wenigstens den Willen zum Scheitern haben, wenn wir nicht schon sehr früh zugrundegehen wollen, was tatsächlich nicht die Absicht sein kann, mit welcher wir da sind.

Thomas Bernhard

Vorbei

Sie ging hin und her, auf und ab, sie stolperte, sie strauchelte, je häufiger, umso mehr sie sich bemühte, alles richtig zu machen. Ihre Schritte waren nicht gut genug, und stehen bleiben durfte sie nicht. Es wird vorbei gehen, redete sie sich ein. Aber es ging nicht vorbei, es stolperte, stockte und fiel vorbei. Es wand sich vorbei, und die Scham hatte ohnehin kein Ende.