26. Dezember

Regen peitscht ans Fenster. Ich lese Knausgard und danach Eribon. Ich will verstehen, so als wäre Verstehen etwas, das aus losen Fäden, aus abgebrochenen Linien, ein Bild entstehen lässt. Und lerne stattdessen immer wieder, dass Verstehen in der entgegengesetzten Richtung funktioniert. Nämlich in der Zerlegung vermeintlich fester Bilder, sicherer Gedankengebäude, in ihre Einzelteile, lose Fäden, unterbrochene Linien.

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Denken lernen

Aber man muss nicht allzu weit denken, um zu begreifen, dass Maler und Bildhauer in den wichtigen und charakterbildenden Jugendjahren nicht aus diesem Grund all ihre Zeit darauf verwendeten, andere Künstler zu kopieren oder rein mechanisch Modelle oder Gegenstände wiederzugeben. Das ist das Wichtige in der Kunst und der Literatur überhaupt, und es gibt nahezu niemanden, der es kann oder auch nur davon weiß, weil es nicht länger vermittelt wird. Heute glaubt man, Kunst sei mit Vernunft und Kritik verbunden, es gehe um Ideen, an den Kunstschulen wird Theorie gelehrt. Das ist ein Verfall, kein Fortschritt.

Karl Ove Knausgard, „Kämpfen“, S. 334

 

Schreiben

Ja, was heißt es zu schreiben?

Es heißt vor allem, sich selbst zu verlieren oder sein Selbst. Darin erinnert es ans Lesen, doch während man beim Lesen das eigene Selbst an ein fremdes Ich verliert, das deutlich als etwas Außenstehendes definiert ist, das nicht ernsthaft die Integrität des eigenen Ichs bedroht, ist der Verlust des Selbst beim Schreiben in einer ganz anderen Weise umfassend, so wie der Schnee im Schnee verschwindet, könnte man es sich vorstellen, oder wie irgendeine andere monochrome Fläche, auf der sich kein privilegierter Punkt findet, weder ein Vordergrund noch ein Hintergrund, keine Decke und kein Boden, nur überall das Gleiche. So ist das Wesen des schreibenden Selbst. Aber was ist dieses Gleiche, das es ausmacht und in dem es sich gleichzeitig bewegt? Es ist die eigene Sprache. Das Ich entsteht in der Sprache und ist Sprache. Aber die Sprache gehört nicht dem Ich, sie gehört allen. Die Identität des literarischen Ichs liegt darin, dass ein ganz bestimmtes Wort gewählt wird und kein anderes, und doch ist diese Identität nicht sonderlich verbindend und zentriert. In gewisser Weise ähnelt sie der Identität, die wir haben, wenn wir träumen, wo das Bewusstsein ebenso wenig unterscheidet zwischen uns, unserer Umgebung und unseren Erlebnissen. […] Der Unterschied zwischen Träumen und Schreiben dürfte darin bestehen, dass Träumen unkontrolliert geschieht, sozusagen im unbewussten Modus des Körpers, und rücksichtslos ist, während Schreiben kontrolliert geschieht und zielbewusst ist. Das stimmt, und doch wieder nicht, denn die wesentliche Ähnlichkeit hat mit der fehlenden Lokalisierung des Ichs zu tun, damit, dass es entgleitet und nicht länger zentriert ist; und ist es nicht die eigentliche Zentrierung, die im Grunde das Ich ausmacht? Der Akt des Zusammenhaltens? Schon. Aber die Wahrheit über das Ich ist nicht die Wahrheit über das eigene Sein. Was zwischen den verschiedenen Bruchstücken aufsteigt, weit draußen im Nicht-Zusammengehaltenen, ist auch der Klang des ganz Eigenen, dieser ein Leben lang anhaltende Ton des Selbst, zu dem wir erwachen, jenseits der Gedanken, die wir denken, und des Gefühls in der Situation. Es ist das Letze, das wir loslassen, bevor wir einschlafen. […] Dieser Ton hat nichts mit dem Ich zu tun und noch weniger mit dem Wir, sondern nur mit dem eigentlichen Sein in der Welt. […] Die vom Ich zusammengehaltenen Gedanken können vom Lesen und Schreiben aufgelöst werden, aber auf verschiedene Weise, beim Lesen, indem man sich auf das von außen kommende Fremde einlässt, und beim Schreiben, indem man in sein eigenes Fremdes eindringt, bei dem es sich um die Sprache handelt, über die man verfügt, mit anderen Worten die Sprache, in der man Ich sagt. Wenn man schreibt, verliert man die Kontrolle über dieses Ich, es wird unüberschaubar, und die Frage stellt sich, ob das Unkontrollierbare und Unüberschaubare des eigenen Ichs nicht eigentlich eine Vergegenwärtigung des tatsächlichen Zustands ist, oder zumindest kommen wir damit einer Vergegenwärtigung des tatsächlichen Ichs sehr nahe.

Knausgard, „Kämpfen“, S. 257 f.

Familie

„Darum beneide ich sie“, hatte Linda eines Abends vor nicht allzu langer Zeit gesagt, als wir in einer der Ecken des enormen Parks zu Abend gegessen hatten und mit den Kindern auf dem Heimweg waren.“ […]

Es geht um eine große Menschenansammlung, mehrere Generationen umfassend, die in diesem Park grillen und reden und lachen. Knausgard und Linda unterhalten sich über das Phänomen Großfamilie und Linda sagt: […] alles konzentriert sich so auf uns, auf mich, dich und die Kinder. Stell dir vor, wir hätten etwas, worin wir verschwinden könnten!“

Ich glaube, ich verstehe, was sie meint. Das Prinzip Familie, das Phänomen Großfamilie. Das Muster das an die Stelle der Konzentration auf die einzelnen Fäden, tritt. Ein großes „wir“ statt ich, du, Kind A., Kind B., mit allen seinen Eigenarten, der Versuch, jedem, aber auch sich selbst, gerecht zu werden, oder das Ganze im Blick zu haben, das Gleichgewicht weniger als das Gewicht, das in so einer Aussagen liegen kann: Wir sind eine Familie. Und das sind wir eben tatsächlich nicht, keine Großfamilie, nur die jeweils kleinen Einheiten, die sich eher gegeneinander behaupten, als sich im großen Gesamtzusammenhang aufzulösen.

Aber natürlich hat auch das seinen Preis.

Ich glaube ein großes, vermutlich grundlegendes, Problem unserer Gesellschaft, ist die Tatsache, dass wir nicht anerkennen wollen und können, dass auch die Freiheit ihre Schattenseiten hat, ihren Preis fordert, ebenso wie der Fortschritt. Dass es vermutlich absolut nichts gibt, das nur gut ist.

Der Roman als Form des Denkens

Im sechsten Teil seines Mammutprojektes schreibt Knausgard:

[…] denn für mich ist der Roman eine Form des Denkens, radikal anders als die Form des Denkens in Essays, Artikeln oder Abhandlungen, weil im Roman die Reflexion der Erkenntnis nicht als Mittel übergeordnet, sondern allen anderen Elementen gleichgestellt ist. Der Raum, in dem gedacht wird, ist ebenso wichtig wie der Gedanke. Schnee, der durch die Dunkelheit fällt, Autoscheinwerfer, die auf der anderen Seite des Flusses vorbeigleiten. Möglicherweise war das Wichtigste, was ich auf der Universität gelernt habe, dass man über einen Roman oder ein Gedicht praktisch alles sagen kann; und es kann durchaus wahrscheinlich und plausibel sein, aber niemals erschöpfend, und vielleicht auch nicht wesentlich, denn ein Roman oder ein Gedicht sind immer auch eine Kraft in sich, etwas ganz Eigenes. Und dass es nicht möglich ist, das, was das Gedicht uns sagen will, auf eine andere Weise als genau diese auszudrücken, lässt es zutiefst geheimnisvoll werden. Die Welt ist ebenso geheimnisvoll, aber das vergessen wir so gut wie immer, seit wir stets der Reflexion den vorrang geben, wenn wir sie betrachten.

Kämpfen, s. 193

Alles hat seine Zeit – Karl Ove Knausgård

(7)

Wie morgens auf dem Weg das Licht die Bäume in ein glühendes Orange getaucht hat, fast als wollte die Natur mir helfen, mir das Feuer der Cherubin vorzustellen.

Kleine abgelegene Tage mit Inseln aus Kinderlachen.

 

Alles hat seine Zeit. Und mindestens zwei Seiten. Und wir sind diejenigen, die sich entscheiden, welche Seite sie betrachten, in den Vordergrund stellen. Vielleicht ist es wirklich so einfach. Und wenn nicht, bleibt immer noch dieser Satz: Amor omnia vincit.

 

Auch das, zugegebenermaßen sehr offene, Geheimnis nicht nur seines eigenen, sondern im Grunde genommen jedes bedeutenden Schreibens, formuliert Knausgard in „Alles hat seine Zeit“, wenn er über Antinous Bellori, den von ihm erfundenen Engelsforscher, schreibt: „[…] weil er, im Gegensatz zu den anderen Schriftstellern und Philosophen seiner Epoche kein Publikum vor Augen hatte, als er schrieb. Er schrieb nicht über sich, sondern für sich.“ (S. 519)

 

Vielleicht ist einer der wichtigsten Aspekte, warum Knausgards Bücher so anziehend sind, die Tatsache, dass seine Bücher eine Antwort darauf zu geben versuchen, was passiert, wenn man die Scham überwindet, wenn man ausspricht, worüber man nicht redet, zugibt, was man nicht wahrhaben will. Wie viel Stärke darin liegen kann, wenn man sich zu seiner Schwäche bekennt.

Alles hat seine Zeit – Karl Ove Knausgård

(6)

Dieser ständige Kampf zwischen dem, was ich sein will, und dem was ich bin. Unstet, ruhelos, zum Leben verdammt, wie Kain (der immer der Zweite, der minderwertige war, beim Vater, vor Gott, der sich erklärt, leidet und sich windet, ohne aus seiner Haut, seiner Rolle, seinen eigenen Grenzen zu können), der sich ablehnt und hinterfragt, während Abel von vornherein sich, sein Denken und seine Sehnsucht auf etwas, das außerhalb von ihm selbst liegt, ausrichtet.

Dieses Böse, das immer wieder aufblitzt in meinen Gedanken. Gehässig, kränkend, abwertend.

Alles, woran man glaubt, beginnt zu existieren. Andererseits kann man Dinge nur überwinden, indem man sich ihnen stellt. Sie wahrnimmt.

 

Mut zum Versagen. Das Beste geben, auch wenn man von Vornherein denkt, es wird nicht genügen. Vielleicht gelingt so eine Überwindung der Eitelkeit.

 

Was Knausgard in „Alles hat seine Zeit“ vorwegnimmt, vorbereitet, ist die Auseinandersetzung mit den „männlichen Tugenden“, mit diesem Ethos, niemals Schwäche zeigen zu dürfen, mit Stolz und Macht und Ehre.

 

Alles hat seine Zeit – Karl Ove Knausgård

Wie Knausgard die Rollen von Kain und Abel verkehrt, eigentlich immer wieder, von der Oberfläche, von dem, was man sieht, zu dem wechselt, was hinter der Stirn vor sich geht, von Emotionen zu Gedanken, von scheinbar unausweichlichen Taten zum Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Handlung.

Er macht es sich nicht so leicht, wie die Bibel, kein Schwarz und weiß, gut und böse. Vielmehr die komplexe Vielfalt der Grautöne eines ganz gewöhnlichen Lebens. Je weiter die Geschichte von Kain und Abel fortschreitet, um so deutlicher wird, dass es auch um das Schreiben geht, um diesen besonderen Zustand, in dem man ganz ist, weil man sich los wird, sich auflöst in etwas, das größer ist, als man selbst. Und das Knausgard eigentlich sein eigenes Dilemma beschreibt, Kain, der Abel bittet bei ihnen zu bleiben, im Dorf, und Abel, der sich nach diesem Zustand sehnt, und bereit ist, den Preis zu zahlen. Im Grunde erzählt er schon in „Alles hat seine Zeit“ von seinem Kampf. Nur hoch verdichtet und metaphorisch, während er in den späteren Büchern sehr direkt ist.