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[…] Darin liegt etwas Ungerechtes – wie überhaupt das Diktat des Betrachters mit seinen aus der Luft gegriffenen Ansprüchen ungerecht ist. Das russische Wort für Betrachter, smotrjastschi, hat eine zweite, weniger geläufige Bedeutung: In der Gefängnis- und Lagersprache, deren sich ein wesentlicher Teil der Russischsprecher regelmäßig bedient, ist der smotrjastschi ein inoffizieller Aufseher – einer, der die ungeschriebenen Regeln festlegt und dafür sorgt, dass sie eingehalten werden.

Ungefähr so könnte man auch die Beziehung zwischen Betrachter und Fotografie, Leser und Text, Zuschauer und Film beschreiben. Sie alle sind Zwischeninstanzen der Macht, Kartenkontrolleure in den Museumssälen des operativen Gedächtnisses. Sie bestimmen sowohl über die Regeln als auch über die Art ihrer Umsetzung. Und das, obwohl der Betrachter, sagen wir es offen, ein ungerechter Richter ist. Sein Gesetz und sein Auswahlprinzip sind nicht göttlicher, sondern menschlicher, oder schlimmer noch: krimineller Art. Seine Sache ist die Aneignung fremden Gutes, sein Geschmacksurteil setzt das Recht des Starken unter Machtlosen, des Lebenden unter Toten durch.“ (Maria Stepanova – Nach dem Gedächtnis übersetzt von Olga Radetzkaja)

Wenn man ein Buch liest, das in erster Linie von Erinnerung handelt, sich mit diesem Phänomen auseinandersetzt, ist es wenig erstaunlich, sich immer wieder selbst zu erinnern, ich gerate dann gefühlsmäßig in eine Mischung aus Erinnern und Bereuen: so ist es gewesen. Und so hätte es sein sollen.

Offene Türen. Der Versuch der Geräuschlosigkeit. Und dieses Gefühl: Dass immer alles verkehrt ist.

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