Ins Blaue

Die Übermacht der Tatsachen, die das „Ausdenken“ verhindern, schreibt Handke in „wunschloses Unglück“ über seine Mutter. Man beachte, dass er nicht Phantasie schreibt, sondern Ausdenken. Ein Begriff, in dem der Ausweg steckt, eine Möglichkeit aus der festgefahrenen Situation herauszukommen, eine Situation, die eigentlich erst durch die Verhinderung des Ausdenkens aussichtslos wird.

Und meine Mutter? Spätestens nach dem verfrühten Tod meines Vaters, diesem für sie unfaßbaren und unüberwindlichen Unglücks, sah sie sich sofort in einer aussichtslosen Lage. So aussichtslos, so erdrückend und allumfassend aussichtslos, dass sie zu trinken anfangen musste. Denn schließlich musste sie trotz allem irgendwie funktionieren. Da war ja noch das Kind. Nicht ihr Kind. Nicht sein Kind. Aber eines, das eine kurze unwiederholbare und unüberwindbare, Zeit lang alles nahezu perfekt gemacht hatte. Die grauen Haare, die das Kind nicht störten, der Traum von einer eigenen, richtigen, heilen Familie.

Dann die Briefe, die sie ihm während seines Kuraufenthalts schickte. „Es spricht die ersten Worte, läuft wacker an meiner Hand.“ Seine Beteuerungen, wie sehr er sie beide vermisse, dass er Fortschritte mache.

Lügen, an die sie glauben mussten, um die Hoffnung nicht zu verlieren.

Später als die Hoffnung endgültig verloren war, nur noch Funktionieren.

Und wenn nichts half, nicht die tröstenden Worte der Schwägerin, nicht die großen vertrauensvollen Augen des Kindes, war da der Alkohol. Die Flucht.

Ihr Ausweg ins Blaue.

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Der Geschmack der Sprache

Gerade wenn die Politik eines Landes im Widerspruch zu einigen meiner moralischen Maßstäbe, meiner Glaubenssätze und politischer Haltung steht, kann es geschehen, dass man sich umso stärker auf die Sprache an sich zurück besinnt. Ihr sei das so widerfahren, schreibt Priya Basil in Lettre International 112, und fährt fort:

„Etwas anders hat meine Gefühle für das Englische verändert – das Deutsche. „In jeder Sprache sitzen andere Augen“, hat Herta Müller geschrieben. Deutsch war eine Lupe, welche die grammatischen Feinheiten vergrößert und einen phantastischen Mechanismus offenbart hat, den ich nie zu sehen gelernt hatte. Sie hat mir gezeigt, wie die Satzstruktur das Denken verändert, wie „vergenderte“ – geschlechtsmarkierte – Nomen das Erscheinungsbild der Dinge verändern. Infolgedessen hat sich der Geschmack meiner Muttersprache verändert – ist zugleich frischer und vertrauter geworden.“

Die kleine Frau zählt ihre Falten

Erst muss man alt werden, dann kann man die Taten verschieben auf später.

Die kleine Frau zählt ihre Falten, dann hält sie ihren kleinen Handspiegel so,

dass er die Sonne reflektiert.

Ich wünsche mir Rapunzel und Schneewittchen an den Geburtstagstisch von Dornröschen, an dem ohnehin schon ein Stuhl fehlt.

Wir dürfen nicht aufhören, die Geschichten immer anders zu erzählen, sagt sie.

Um uns dann der Wirklichkeit zu stellen.

 

 

Das Mädchen, das alle Geheimnisse kennt

In der Parallelstraße wohnt ein kleines Mädchen, das alle Geheimnisse der Welt kennt, und deshalb unglaublich einsam, traurig und müde ist. Jeden Tag versucht sie verzweifelt zu vergessen. Sie weiß nur dieses Eine nicht; dass das Vergessen ganz von allein geschieht, wenn sie erwachsen ist. Sie wird eine ernste erwachsene Frau sein, die immer noch einige Geheimnisse kennt. Mehr als die meisten Menschen. Sie wird eine unerklärliche Leidenschaft für Hütchenspieler haben. Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wie sie aussehen wird. Genau darin, liegt das Problem meines Schreibens.

Die feinsinnigen Eigenheiten der Luft.

Es geht darum, die Reihenfolge einzuhalten. Die Probleme zuerst wahrnehmen, dann erkennen, dann aussprechen, dann nach einer Lösung suchen. Und über all dem die Leichtigkeit nicht verlieren, die Lust am Spiel, das Spielerische. Sich selbst nicht zu ernst nehmen (das kann man von Camus lernen, behauptet Iris Radisch), aber deswegen nicht verantwortungslos werden.

Der Verzicht blüht an jeder Ecke

Der Verzicht blühte an jeder Ecke. Die Farben gingen aus und ein. Auf dem alten vernarbten Holztisch, den ich nach meiner Scheidung zugesprochen bekommen hatte, stand ein Blumenstrauß und sprach mich an.

Selbstverständlich verstand ich nicht, was er sagte. Ich war schließlich nicht verrückt, nur einsam. Aber es war nicht zu überhören, dass er sprach. Jeder Mensch ist wertvoll, so etwas in der Art, hörte ich schließlich doch nach sehr langem, sehr konzentrierten Lauschen heraus.