Heimat

Es ist schon lange her, vier Jahre, dass dieser Text auf den Gleisbauarbeiten erschienen ist, aber als ich ihn heute gelesen habe, hat er einiges in mir in Bewegung gesetzt.

Denn es geht u.a. auch um Heimat, ein Thema, das mich schon lange beschäftigt. „Heimat“, schrieb Uwe Johnson, „ist da, wo meine Erinnerung Bescheid weiß.“ „Der Ort, wo meine Erinnerung sich auskennt, ist immer die Vergangenheit“, schreibt Melusine. Also ist Heimat der Ort, der unwiederbringlich hinter uns liegt. Das ist scharf beobachtet, gut auf den Punkt gebracht. Aber es muss auch eine Heimat geben in der Gegenwart. Im besten Fall ein Ort, in dem alles ineinander fließt; die Vergangenheit, die Gegenwart und die Hoffnung für die Zukunft, eine Hoffnung, die antreibt schwierige Dinge in die Hand zu nehmen, das, was noch verbesserungswürdig erscheint, tatkräftig zu verbessern, Utopien zu entwickeln, an denen man scheitern und sich wieder aufrichten kann. Eine Heimat, die die Vergänglichkeit akzeptiert, und aus dieser Einsicht die Kraft bezieht, den Moment und die Gegenwart zu leben und zu lieben, die gleichzeitig Vorausschau schenkt für die Zukunft. Nicht nur für die eigene, sondern bestenfalls für die einer Welt, von der man nicht aufhört zu glauben, dass sie sich bessern kann, ein friedlicherer, lebenswerterer Ort werden kann. Eine Heimat, die so einen Knotenpunkt bereitstellen und aufrecht erhalten kann, wo ist die?

Mein Platz am Küchentisch, wenn alle das Haus verlassen haben? Wenn ich ein paar Stunden lang allein bin, mit meinen Gedanken, den Büchern und dem Papier. Aber auch mit der Gewissheit, dass die anderen zurückkehren werden, im Laufe des Tages. Mit der Freude darüber, dass wir ein Netz bilden, dessen Maschen mal enger mal loser gewoben sind, aber dem wir vertrauen können, dass es nicht reißt?

Das ist der Ort, wo meine Erinnerung sich auskennt, und in die Zukunft schaut. Wo Leben stattfindet. Lebendige Gegenwart.

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Melodie

Alles, was sie sagte, hatte eine bestimmte Melodie. Ich war so süchtig nach dieser Melodie, dass ich mich nach Kräften bemühte, den Inhalt ihrer Sätze zu überhören. Sie warf mir vor, ihr nicht zuzuhören, was gleichzeitig wahr und weit von der Wahrheit entfernt war.

Erzähl mir von deiner Kindheit, sagte sie, und ich konnte nur daran denken, wie die Mondlandung der Apollo 11, mir den Mann im Mond gestohlen hatte, wie diese Bilder meine Kindheit so weit beschädigt hatten, dass ich mich gezwungen sah, erwachsen zu werden, oder jedenfalls in dieses sehr undurchsichtige Gebiet der Adoleszenz aufzubrechen. Ich nahm es meinen Eltern persönlich übel, dass sie mich nicht vor diesen Bildern geschützt hatten und redete wochenlang nicht mit ihnen

„Ich hatte keine Geschwister. Meine Eltern sind heute noch miteinander verheiratet“, sagte ich. Natürlich war sie enttäuscht. Vielleicht war sie überhaupt nur mit mir zusammen, um enttäuscht zu werden.

Die Kaffeemaschine gab in unregelmäßigen Abständen Knackgeräusche von sich. Schritte aus dem Treppenhaus näherten sich der Tür und verstummten wieder. Ein Hund bellte. Ein Kind schrie. Sie trank ihren Kaffee in sehr kleinen Schlucken. Ich wurde nervös. Sie schwieg beharrlich. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich wollte diese Melodie wieder hören. „Ich möchte dich meinen Eltern vorstellen“, sagte ich, „lass uns am Wochenende zu ihnen fahren.“

Sie riss die Augen auf, starrte mich an. Dann brach sie in unbändiges Gelächter aus. Und als sie endlich wieder sprach, war die Melodie verschwunden.