Hypnotisierende Genauigkeit bescheinigt Mikael Krogerus in seinem lesenswerten Artikel in der Freitag Karl Ove Knausgard, der dort zitiert wird: „sich nichts vormachen, dort bleiben, wo man wirklich ist. Ich wollte so tief im Kleinen verschwinden, dass sich die großen Linien auflösen. Ich schrieb über Windeln wie Joyce über Dublin.“
Abgesehen davon, dass auch ich süchtig bin nach Knausgards Büchern, dass ich nicht aufhören kann zu lesen, wenn ich einmal angefangen habe, ist das, was er mit diesen Büchern tut, beängstigend. Erschreckend. Knausgard liefert jeden, der ihm über den Weg gelaufen ist, der Öffentlichkeit aus. Er macht nicht Halt vor seinen Kindern, nicht vor seiner Frau, vor niemandem, der ihm vertraut hat, der gar keine andere Wahl hatte, als ihm zu vertrauen, sich auszuliefern. Ich weiß nicht, ob ihm egal ist, was er dadurch, durch sein Schreiben, in ihren Leben anrichtet. Ich glaube nicht, dass es ihm egal ist, aber er kann offenbar nicht anders handeln. Es ist ein Zwang, dem nachzugeben ihn nicht einmal für die Zeit der Niederschrift glücklich macht. Ist das Ehrlichkeit, Provokation, Rücksichtslosigkeit? Unverantwortlich, oder eine ganz andere, schwer zu erfassende, Art von Verantwortung?
Ich bekomme eine Ahnung davon, wie es ist, wenn man blindlings Dinge tut, sich treiben lässt, von denen man erst hinterher, nach und nach ermessen kann, welches Ausmaß sie haben, was man damit angerichtet hat.
Und doch hat er weiter gemacht. Nicht nur weiter geschrieben, sondern auf genau diese Art und Weise weiter geschrieben.
Und wenn ich mich davon dermaßen gefangen nehmen lasse, wenn ich mich davon ermutigen lasse, mich wieder finde, an manchen Stellen verstanden fühle, kann das alles nicht darüber hinweg täuschen, dass es auch ein gutes Stück Voyeurismus ist, das mit Knausgards Büchern bedient wird. Nicht nur die Sehnsucht danach, kompromisslos aufrichtig zu sein und auf nichts und niemanden Rücksicht zu nehmen, sich etwas zu überlassen, über das man keine Kontrolle hat.
Ein kurzer Rausch und die ausufernden, schmerzhaften, nicht absehbaren Folgen.
Das sind auch schon meine Gedanken gewesen: Wie viel Wahrhaftigkeit verträgt die eigene Biografie? Oder anders gesagt: Wie viel müssen andere für meins den Kopf hinhalten?
Ein bisschen erinnert mich ja Knausgards Vorgehen an einen Satz meiner Mutter, die Märchen ablehnte: „Das ist ja alles nicht wahr, das ist ja alles erfunden. Ich will euch doch keine falschen Geschichten erzählen.“
Diese Haltung teile ich persönlich nicht. Etwas wir nicht wahrer oder weniger wahr, ob der Name einer anderen Person zum Schutz der Privatsphäre geändert ist oder nicht.
Ich persönlich teile Knausgards diesbezügliche Haltung nicht. Aber ganz ehrlich gesagt: Verstehe kann ich sie irgendwie schon. Es ist eine Art Konsequenz, die wohl fast ein wenig an eine „Besessenheit“ grenzt. Und ja, auch das mit dem Voyeurismus, das du erwähnst, habe ich an mir beobachtet.
Und doch: Ich werde auch die folgenden Bände lesen. Will. Muss.
Konsequenz, die fast schon an Besessenheit grenzt, das leuchtet mir irgendwie ein. So hatte ich das noch nicht gesehen, aber ich finde diesen Gedanken sehr nachvollziehbar. Und diese Unterscheidung zwischen wahr und falsch, ausgedacht und ehrlich gibt es ja vermutlich seit es Geschichten gibt, ebenso wie die Diskussion darüber. Um überhaupt etwas schreiben zu können, was über einen selbst hinaus geht, was andere erreicht, ist Wahrhaftigkeit notwendig und auch immer vorhanden, auch in jedem Märchen ist dieses Stückchen Wahrhaftigkeit, das etwas aussagt über den Kern des Menschseins, über etwas, das uns alle angeht und berührt. Es ist nur sorgfältiger verborgen, und die Personen sind so beliebig, das jeder von uns gemeint sein kann. Und auch das Problem, das ich mit Knausgard habe ist vermutlich so alt, wie das Schreiben selbst, nämlich wie viel darf ich preis geben und andererseits wieviel Rücksicht darf ich nehmen, um überhaupt noch schreiben zu können, was gerade ich schreiben muss.
Ich glaube schon, dass Knausgards Bücher sehr authentisch sind, und gleichzeitig frage ich mich WIE authentisch sie denn wirklich sind. Ist wirklich alles genauso gewesen, wie ich es lese (und du und all die anderen auch) oder erscheint es nur so? Nehme ich den Band „spielen“, ich bezweifel einfach, dass sich irgendjemnad so minutiös erinnern kann … ich glaube, dass ihm eine spannende Mischung aus Erlebtem und Erfundenem gelingt. Gleichzeitig erwischt er unendlich viele Leserinnen und Leser bei sich selbst, weil er benennt, was sich andere kaum alleine unter der Bettdecke getrauen einzugestehen, und genau das ist wahrscheinlich der Reiz an seinen Büchern. Gerade eben lese ich den 4. Band: Leben … noch hat er mich nicht wirkich gepackt, nicht wie all die anderen. Bislang ist mein Favorit Lieben, dann spielen …
nach langer Schweigepause grüsse ich dich herzlich
Ulli
Liebe Ulli, schön, dass Du Dich wieder meldest. Ich habe mit Spielen begonnen, damals, das war der erste Band den ich gelesen habe, und er hat mich sehr gepackt, nicht nur, weil mich so vieles (bis hin zu der Musik) an meine eigene Kindheit erinnert hat, sondern gerade darum, weil ja eigentlich nichts aufsehen erregendes erzählt wird, und es mich trotzdem so gefesselt hat. Natürlich kann sich Knausgard nicht detailliert an alle Kleinigkeiten, die er da erzählt erinnern, ich habe das Gefühl, was sein Schreiben so anziehend, so unausweichlich macht, ist gerade die Tatsache, dass er wieder hineingehen kann in bestimmte Situationen der Kindheit und das es darum eine wahrhaftige Erinnerung ist, die er daraufhin beschreibt, eine, bei der sicher Menschen, die dabei gewesen sind, ganz viele kleine Fehler finden könnten, was aber vollkommen unerheblich ist, weil es gefühlsmäßig stimmt und echt ist, was er da beschreibt.