Fenster

Ein Fenster hat so wenig Leser1 , sagte sie, und dass sie glaubt, dass das ein Zitat sei, nur habe sie vergessen von wem. Wir gehen durch Amsterdam, an den Grachten entlang. Wir gehen sehr langsam, weil sie in jedes Fenster sieht. Lange und genau. Möglicherweise sind diese tiefliegenden Fenster der Grund, warum sie hierher fährt. Wer weiß das schon? Was weiß ich über sie?

Wir sind uns auf einem Friedhof begegnet. Auch dort, bei dieser ersten Begegnung, spielten Fenster eine Rolle. Es hat mich traurig gemacht, dass sie so jung war. Und jetzt, fast zehn Jahre und unzählige Fenster später, ist sie immer noch jung, und ich habe mich längst an die Traurigkeit gewöhnt. So wie sie sich damit abgefunden hat, dass ich nicht aufhöre, ein anderer sein zu wollen als ich bin.

Ein Fenster hat so wenig Leser, hat sie gesagt. Und ich habe nicht gefragt, was sie damit meint. Nur von wem das ist.

 

 [Krautgarten Nr. 63]
1Uljana Wolf

Sieben mal zwei

Die Erinnerung und die Vorstellung. Wenn sie eine Schnittmenge bilden vielleicht so etwas wie Gegenwart.

Ein Fehler und seine Berichtigung. Die Gegenwart der eigenen Auslöschung.

Oder zwei Menschen, Seite an Seite, Hand in Hand. Ist das Hoffnung, oder Gegenwart, Frage, oder Antwort?

Die Grenzen. Und hinter den Grenzen, die Lücken, die man nicht ergänzen darf.

Einer ist gut, aber ein anderer besser. Ein Gefühl und seine mangelhafte Übersetzung in Worte.

Die Namen und das Unbenennbare. Eine Berührung (zufällig) und einer, der nie wieder vergisst.

Einer der redet, und einer, der zuhört. Eine Bedeutung und das, was man davon versteht.

Die Kindheit Jesu – J.M. Coetzee

Die Kindheit Jesu ist ein Roman, der auf so vielen Ebenen gelesen werden kann, dass sein Potenzial unmöglich in einer einzigen Besprechung ausgeschöpft werden kann. Es geht um alles, um Glaube, Liebe, Hoffnung, aber auf der Grundlage der Fragwürdigkeit, wobei Coetzee die Würde der Fragen rehabilitiert. Vielleicht ist „Die Kindheit Jesu“ in erster Linie ein Roman über die Fragwürdigkeit. Unter den Antworten, mit denen wir selbstverständlich leben, liegen die Fragen, die immer wieder neue Geschichten erzählen.

Abgetrieben

Abtgetrieben - Isla volante
Abtgetrieben – Isla volante

Schließlich wachsen die Gedanken aus dir heraus, treiben Knospen und beginnen zu blühen. Darum pflanzen wir Bäume für jedes neugeborene Kind. Sein Leben soll sich verzweigen, wie dieser Baum soll es Wurzeln treiben und wachsen.

Während du nur davon träumst, wegzugehen, den Baum zu fällen, aus seinem Holz ein Floss zu zimmern, und dich den Wellen zu überlassen. Darum hast du als Kind die Märchen mit den Wasserwesen am liebsten gehabt. Und um uns zu beruhigen, sagst du, dass es eben solche gibt, die ihre Wurzeln im Meer haben.

Mutterbilder

Mutter und Kind Version II - Zeichnung von Susanne Haun
Mutter und Kind Version II – Zeichnung von Susanne Haun

Mutterbilder. Welches Bild sich die Gesellschaft von Müttern macht, wie wir selbst unsere Mütter sehen und später dann uns selbst als Mütter. Oder eben nicht. Wie unsere Kinder uns sehen und was das alles auch mit den Vätern zu tun hat. Das ist ein schier unerschöpfliches Thema.

Wo soll eine da anfangen?

Unvergesslich das Bild, dass Marguerite Duras sich immer wieder von ihrer Mutter erschreibt, in immer neuen Anläufen, Ansätzen, Versuche, in die sie alles hineinschreibt, was sie vermisst hat. Wie sie ihr Leiden nicht verschweigt und trotzdem Erklärungen sucht für das Verhalten der Mutter, sie verteidigt und anklagt. Am Ergreifendsten ist das für mich in ihrem Buch „Der Liebhaber“ gelungen. Dem Buch, mit dem sie endlich den Prix Goncourt gewonnen hat, von dem sie glaubte, er hätte ihr für „Heiße Küste“ zugestanden, das Buch, das sie selbst ablehnte, das sie nie wirklich gemocht hat.

Vor einiger Zeit ging es hier in diesem Blog um Mutterbilder, angestoßen durch Marina Abramovic, einer Frau, die sich bewusst gegen Kinder entschieden hat. Keine Kompromisse.

Im Rahmen der daraus entstandenen, sehr fruchtbaren Diskussion, schickte mir Susanne Haun freundlicherweise einige ihrer zu diesem Thema entstandenen Zeichnungen. In loser Reihe möchte ich nun diese Zeichnungen, angereichert durch dadurch angestoßene Ideen, veröffentlichen.

Einer der Sätze, die möglicherweise die gesamte Diskussion in sich vereinigen und auf den Punkt bringen, stammt von Louise Bourgeois. Dieses Zitat soll deshalb mit Susannes Zeichnung den Auftakt der Serie machen.

Du brauchst eine Mutter. Das weiß ich, aber ich weigere mich, deine Mutter zu sein, weil ich selbst eine Mutter brauche.“

Tzveta Sofronieva

Sprache

Die Sprache ist wie Wasser.
Beim Halten verliert man sie,
im Fließen hat sie Bestand,
schenkt eher Leben als Ertrinken,
wäscht keine Flecken aus,
ist der erste Grund, dass alles keimen kann.

Tzveta Sofronieva in der Edition Lyrik Kabinett. Ich bin dankbar für diesen Gedichtband.

 

Rapunzel und der Mönch

Rapunzel saß in einem Turm und wurde es leid, ihre Zöpfe zu flechten. Im Traum war ihr ein Mönch erschienen, hatte ihr kichernd empfohlen, Rüben zu züchten und war verschwunden. Rapunzel löste ihre Zöpfe. Das löste ihre Probleme nicht, das löste auch nicht den Turm in Luft auf, es löste lediglich den Wunsch aus, mit dem Mönch zu sprechen.
„Können Mönche sprechen?“, fragte sie ihre Stiefmutter, nachdem diese keuchend an Rapunzels Zöpfen in den Turm geklettert war.
„Woher kennst du solche Worte?“, fragte die alte Frau atemlos.
„Ich habe sie geträumt“, antwortete Rapunzel.
„Wenn das nicht aufhört mit den Träumen, schneide ich dir die Zöpfe ab“, drohte die hässliche Frau.
Im selben Moment kam ein Mönch vorbei. Er hatte Rapunzels Stimme gehört und plötzlich war er überzeugt davon, ein Prinz zu sein. Mit dieser Annahme irrte er sich. Er war kein Prinz. Er konnte bloß fliegen. Er erhob sich in die Lüfte. Er folg vor das einzige Fenster der Burg und wedelte mit den Armen.
„Huhu Rapunzel“, rief er, „sieh nur, ich kann fliegen.“
Die Stiefmutter sagte: „Das ist ein Mönch. Jetzt weißt du es also