Es hatte Gerüchte gegeben, damals, vor zweieinhalb Jahren als ich keine der limitierten Karten für die Lesung Herta Müllers im Oberstufenkolleg mehr bekommen hatte. Sie sei so herablassend und überheblich dem Publikum gegenüber aufgetreten, dass nach der Lesung keins ihrer Bücher verkauft wurde.
Der Tag, an dem Herta Müller erneut nach Bielefeld kam, um zu lesen, hatte nicht gut angefangen. Beim Einparken hatte ich das Auto zu weit nach vorne gesetzt und wenig später war ich die Treppe heruntergefallen, aber eine Karte hatte ich diesmal und das dicke Knie würde im Sitzen schon Ruhe geben.
Die Lesung war ausverkauft, aber da ich rechtzeitig anreise, bekomme ich einen anständigen Platz. Vor mir drei Damen mit wundervollen Lachfalten, hinter mir ein Paar, das streitet.
Ernest Wichner hat die Lesung mit Herta Müller als „Lebensgespräch“ inszeniert. Eine großartige Komposition, die den Werdegang Herta Müllers chronologisch nachzeichnet und durch kurze Passagen aus ihren Büchern illustriert.
„Witze basieren auf Katastrophen“, sagt Herta Müller, als sie von der Zeit ihrer Verfolgung in Rumänien erzählt. Wahre Ohnmacht [die sie schlimmer empfunden habe, als die Todesangst], sei das am schwersten zu ertragende gewesen. Diese Ohnmacht, die sie anlässlich der Verleumdungen empfunden hat, da die Securitate verbreitete, sie arbeite für den Geheimdienst. Da die Securitate genau deshalb verbreitete, sie arbeite für den Geheimdienst, weil sie sich weigerte für den Geheimdienst zu arbeiten. Aber wer sollte das glauben?
Da fing sie an zu schreiben. Um zu überleben. Um den Verstand nicht zu verlieren. Und den Glauben an sich selbst.
„Diese Kiste von einem Dorf. Alles kam mir absurd vor, einschließlich mir selbst“, sagt sie.
Gelesen habe sie immer schon, um zu wissen, wie das Leben geht. Und ihr Schreiben habe sie niemals als Schreiben von Literatur verstanden, sondern als Selbstvergewißerung.
Auch Lyrik habe immer eine große Rolle gespielt. Gedichte waren ihre Gebete gegen die Angst, sagt Herta Müller.
Diese Angst wiederum, glaubt sie, sei gleichzeitig der beste Literaturkritiker von allen gewesen, weil nur die dichtesten Texte durchkommen, nur die, die unbedingt geschrieben werden müssen.
Dann liest sie aus Niederungen, ihrem ersten Buch, das 1982 in Rumänien und zwei Jahre später in Deutschland erschienen ist, wo es mit dem Aspekte Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Während in Deutschland die Entdeckung des großen Talents von Herta Müller einsetzte, das Erscheinen einer Stimme, die wirklich etwas zu sagen hatte, begann in Rumänien die Hetzjagd. „Die Leute im Dorf haben mich angespuckt“, sagt sie.
Der Text, den sie liest, handelt von der existenziellen Bedrohung des Einzelnen durch Gerüchte und bringt Schande über die, die Schande über andere bringen.
Nach Erscheinen des Buches, hat man Herta Müller reisen lassen, nicht zuletzt, um die selbst gestreuten Gerüchte, sie sei ein Spitzel, zu untermauern. Herta Müller zitiert viel aus ihren Akten. Nach all den Jahren merkt man ihr an, wie gegenwärtig die Schrecken der Zeit noch sind. Das Absurde.
1987 siedelt Herta Müller endgültig nach Deutschland über.
Sie liest aus Herztier. Eine Geschichte über Verrat. Darüber, wie man einen, der einen verrät, trotzdem nicht aus dem Herzen reißen kann.
„Sie sollte weggehen, aber ihr Gesicht hier lassen. Ich hatte es so vermisst.“
Während die unmögliche Beziehung zum Vater eine große Rolle beim ersten Buch gespielt hatte, wurde später die Lagererfahrung der Mutter immer bedeutungsvoller. Herta Müller begann zu recherchieren, wollte möglichst viel über die Deportierten in Erfahrung bringen. In diesem Zusammenhang kam es schließlich zur Zusammenarbeit mit Oskar Pastior und zur Atemschaukel, dem Buch, das gemeinsam geplant war, das Herta Müller aber nach dem plötzlichen Tod Oskar Pastiors 2006, allein schreiben musste.
Nach Fertigstellung des Buches wurde die Arbeit Pastiors für die Securitate publik. Man war schnell mit ungeprüften Verurteilungen, machte ihn gar für den Selbstmord eines Schriftstellerkollegen verantwortlich.
Herta Müller berichtet, dass sie in Bukarest die Akten Oskar Pastiors in der dortigen Gauck Behörde eingesehen habe. Sie sagt, er habe nichts Verwerfliches getan. Direkt nachdem er aus dem Lager gekommen sei, habe man ihn gezwungen für die Securitate zu arbeiten. Seine Berichte waren zutiefst belanglos, nicht geeignet einem Menschen auch nur im geringsten zu schaden. Sie sei froh, sagt Herta Müller, dass Oskar Pastior ihr seine Arbeit für die Securitate verschwiegen habe, weil sie ihn fallen gelassen hätte. „Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass er nichts Schlimmes getan hat“, sagt sie, „und hätte ihn noch einmal bestraft.“ Denn dass er ohnehin sein Leben lang unter dieser „Arbeit“ gelitten hat, davon ist sie überzeugt.
Es ist eine sehr schöne aufrichtige Verteidigungsrede, mit der Herta Müller versucht, Oskar Pastior zu rehabilitieren, bevor sie aus der Atemschaukel liest.
„Es gibt ein inneres Gesetz, wonach man nie mit dem Weinen anfangen darf, wenn man zu viele Gründe dafür hat,“ liest Herta Müller und jeder spürt, sie liest für Oskar Pastior. Eine Episode, in der der Deportierte von einer Russin ein Taschentuch geschenkt bekommt, und spürt, dass er der Stellvertreter des ebenfalls deportierten Sohnes dieser Frau ist.
„Das Taschentuch war der einzige Mensch, der sich im Lager um mich kümmerte.“
Später findet der Protagonist frisch geborene Mäuse auf seinem Kopfkissen. „Das Kopfkissen hat gemäuselt“, hatte Oskar Pastior erzählt. „Ich spürte sofort, dass ich sie liebte und dass ich sie loswerden musste, bevor sie Brot fressen.“
Zum Abschluss liest Herta Müller einige ihrer Collagen-Gedichte, deren dritter Band „Vater telefoniert mit den Fliegen“ im Herbst erscheint.
Herta Müller ist eine zutiefst uneitle Frau. Das Gegenteil von arrogant. Eine, die das Wesentliche von dem Unwichtigen trennen muss, nachdem was sie erlebt hat. Aber manch einem mag das arrogant erscheinen. Sie wird damit leben können, sie hat schon ganz andere Verleumdungen überlebt.
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